Ausgabe 03/2023
König ohne Land
Marseille am Donnerstag, 13. April, zwölfter landesweiter Protesttag gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters. Wie seit drei Monaten üblich versammeln sich am alten Hafen Demonstranten aller Generationen und Beschäftigungssektoren. An der Basis ist die Intersyndicale, der Zusammenschluss der acht großen französischen Gewerkschaften, gelebte Selbstverständlichkeit. Man kennt sich, scherzt miteinander. Ganz vorne stehen die CGT-Mitglieder vom Stromverteilungsbetrieb Enedis. Sie werden wie Robin Hoods umjubelt, weil sie die Stromversorgung in sozial schwachen Stadtvierteln auf Nulltarif geschaltet haben. "Illegal, aber moralisch", kommentiert ein Angestellter die Aktion. Und überhaupt: "Diese Bewegung ist keine gewöhnliche."
Spenden und streiken
In der Tat. Noch nie in der jüngeren Geschichte hat sich ein sozialer Konflikt dermaßen in die Länge gezogen. Sicherlich geht es nach wie vor um die Weigerung, "die zwei schönsten Rentenjahre gegen die zwei schlimmsten Arbeitsjahre" einzutauschen. Inzwischen aber geht es den Protestierenden um viel mehr. Um die Verachtung und die Arroganz eines Präsidenten, der gegen die Meinung von dreiviertel seiner Landesgenossen stur behauptet, ihre Belange besser als sie zu kennen. Und um die veralteten Institutionen, die ein solch monarchisches Gebaren fördern. Seitdem das umstrittene Rentengesetz ohne Abstimmung des Parlaments verabschiedet worden ist, wird entschlossener denn je nach Fortsetzung und Intensivierung des Kampfes gerufen. 62 Prozent der Franzosen stimmen dem laut Umfragen zu.
Letzteres lässt sich auch an der unerhörten Fülle der verschiedenen Streikkassen erkennen: Laut der Zeitung Le Monde sind schon über 6 Millionen Euro gespendet worden, auch das eine Art Volksabstimmung. "Natürlich freut man sich darüber", sagt Mario, ein CGT-Hafenarbeiter, "aber besser wär's, wenn die Spender persönlich streiken würden." Er selbst hat insgesamt drei Wochen Arbeitsniederlegung hinter sich. Da eine Auszahlung aus den Streikkassen erst nach dem Konflikt erfolgen soll, muss er bis dahin mit Raten auskommen. Die Rolle des stellvertretenden Kämpfers können sich viele Beschäftigte nicht ewig leisten, und selbstverständlich setzt die Regierung genau darauf. Auch die – auf der Demo wie Helden gefeierten – Raffinerie-Arbeiter von Fos-sur-Mer haben ihre Blockade beendet, während derer dutzende Tanker tagelang in der Reede auf Entladung warten mussten.
Wieder einmal bestätigt sich, dass der von Demonstranten lauthals beschworene Generalstreik eine Illusion ist. In vielen Sektoren sind tradierte Arbeitskämpfe ineffektiv geworden (selbst Streiks im Nahverkehr in Zeiten von Homeoffice). Hinzu kommt, dass gerade mal ein Zehntel der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert ist – wobei seit Anfang des Konflikts die CGT allein 30.000 neue Mitglieder gewonnen hat. Gewiss: Millionen Franzosen gingen demonstrieren, trotzdem wird der allgemeine Unmut von einer aktiven Minderheit getragen.
Und obwohl mitgliedsstärkste Gewerkschaft im Lande, sticht die CFDT bei den Straßenprotesten nicht hervor. Vorwiegend in Dienstleistungs- und Privatbranchen verwurzelt, setzte ihr Vorstand schon immer eher auf konstruktiven Dialog als auf Arbeitskämpfe. 2020 hatte die CFDT sogar Macrons ersten Anlauf zur Rentenreform gebilligt. Dass sie diesmal den Schulterschluss mit den militanteren Gewerkschaften wagte, ist der Absage zuzuschreiben, die der Präsident ihrem Verhandlungsangebot erteilte. Nicht die Gewerkschaften haben sich radikalisiert, sondern die Regierung.
Jung und gelb
Freitag, 14. April. Wie überall im Lande versammeln sich mehrere hundert Menschen vor der Marseiller Präfektur, um die Entscheidung des Verfassungsrats zu verfolgen, letzte Hürde vor der offiziellen Verabschiedung des Rentengesetzes. Nicht überraschend wird die Klage der Opposition zurückgewiesen: Der Verfassungsrat besteht nicht aus unabhängigen Juristen, sondern aus pensioniertem Regierungspersonal, die zu ihren Dienstzeiten dieselbe wirtschaftsliberale Politik betrieben. Da jetzt aber alle institutionellen Mittel ausgeschöpft worden sind, muss der Protest entweder aufhören oder sich gegen die Institutionen selbst richten.
Die Intersyndicale kündigt für den ersten Mai einen weiteren landesweiten Protesttag an, doch ist heute auf der Straße niemand gewillt, bis dahin zu warten. Spontan begeben sich einige hundert Schüler und Studierende zum Saint-Charles-Bahnhof, um die Gleise zu blockieren. Die landesweite Teilnahme der Jugend an der Bewegung ist entscheidend, sie deutet darauf hin, dass die soziale Unruhe so bald nicht abflauen wird.
Am nächsten Tag streift ein Demonstrationszug durch das Stadtzentrum, angeführt von Gelbwesten der ersten Stunde. Die "Vergelbwestung" des Protests hat sich längst etabliert. Nicht nur gehören ihre Sprechchöre und Lieder mitunter zum allgemeinen Repertoire, auch ihre Art, unangemeldet und improvisierend durch die Stadt zu demonstrieren, hat Schule gemacht. Nach den Demonstrationen setzen Gelbwesten, Jung und Alt die Diskussionen auf Kneipenterrassen fort.
Was aus dem Konflikt jetzt werden kann, weiß niemand. Doch herrscht Einigung darüber, dass er Teil einer längeren, anhaltenden Bewegung ist. 2016 ging es gegen das Arbeitsgesetz los, dann folgten Gelbwestenbewegung, Bildungsproteste, Pflegestreiks und Umweltaktionen. Es gilt als sicher, dass Macrons verbleibende Amtszeit weiterhin stürmisch bleiben wird.
Links und rechts
Derweil bestätigt eine neue Umfrage, dass seine Beliebtheitsquote ein historisches Tief erreicht hat. Nur gehen die verlorenen Punkte des präsidialen Lagers nicht an das Mittelinksbündnis NUPES, sondern an Le Pens rechtes Rassemblement National. Das ist das Rätsel dieser einzigartigen Krise. Während Frankreich von einer breiten sozialen Bewegung mit eindeutig linken Forderungen geprägt wird, driftet das Land politisch nach rechts.
Natürlich mögen auch manche Gewerkschaftsmitglieder in der anonymen Wahlkabine Le Pen wählen. Anzunehmen ist jedoch, dass ein Großteil der Protestierenden eher zu jenen 17 Millionen gehören, die sich bei der letzten Präsidentenwahl ihrer Stimme enthielten. Jenseits der Person Macron wird den undemokratischen Institutionen der 5. Republik nicht mehr getraut, seien sie auch von einer linken Regierung geführt. Für immer mehr Anhänger des autoritären Wirtschaftsliberalismus hingegen scheint nach Macrons Debakel die Rechtspopulistin Le Pen die letzte Option zu sein.
Töpfe und Pfannen
Montag, 17. April. Um 20 Uhr wendet sich Macron an die Nation, um für "100 Tage der Befriedung" zu werben. Während seiner Rede stehen in allen Städten massenweise Bürger draußen vor den Rathäusern, um mit Töpfeklappern und Sprechchören zu verdeutlichen: Wir wollen denjenigen nicht mehr hören, der uns systematisch überhört. Seither vergeht kein Tag, ohne dass der Präsident oder einer seiner Minister auf ähnliche Weise empfangen wird, wohin auch immer sie gehen.
Verzweifelt versucht die Regierung, das Blatt zu wenden und über alle möglichen Themen zu reden, nur nicht über das Rentengesetz. Ihrerseits machen Gewerkschaften, Opposition und aufgebrachte Bürger deutlich, dass keine weitere Diskussion geduldet wird, solange das Rentengesetz besteht. In seiner Flucht vor der Wirklichkeit greift das Regime zu mitunter skurrilen Maßnahmen. Um unliebsame Empfangskomitees bei Regierungsbesuchen zu vermeiden, hat eine Präfektur untersagt, Bratpfannen, Kochtöpfe und sonstige "tragbare Schallvorrichtungen" bei sich zu haben. Darüber lacht nun die ganze Nation.