Einige Schwergewichte bei den Einzelhändlern steuern auf einen Großkonflikt zu, der knapp drei Millionen Beschäftigte betrifft. Ende Januar fiel der Startschuss. Die ersten Regionen des Arbeitgeberverbandes HDE begannen damit, fast alle tariflichen Regelungen mit ver.di aufzukündigen. Der Rest zog nach. Das ist außergewöhnlich, eine solche bundesweit koordinierte Aktion, die sämtliche Entgelt- und Manteltarifverträge betrifft, hatte es zuvor noch nie gegeben.

Eigentlich war in diesem Frühjahr nur eine Lohn- und Gehaltsrunde vorgesehen, doch plötzlich stellen die Unternehmer auch wichtige Schutz- und Zuschlagsregelungen - bei Mehrarbeit, Überstunden, Freistellungen, Urlaub und vielen anderen Aspekten des Arbeitslebens - zur Disposition. Eine Schockstrategie. Man wolle die Tarifverträge endlich modernisieren und zukunftstauglich machen, bewarb HDE-Geschäftsführer Heribert Jöris das Vorgehen. Dieses Motiv ist aus ver.di-Sicht vorgeschoben. Bundesvorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger kündigte sofort Gegenmaßnahmen an. Hier werde ein Generalangriff geplant, "mit dem die Konzerne den Vernichtungswettbewerb im Handel auf Kosten des Personals verschärfen wollen". Sie setzt darauf, dass die Beschäftigten die "richtige Antwort" geben werden (siehe Interview).

Beispiellose Preisschlacht und Umsatzjagd

Der Einzelhandel in Deutschland ist umkämpft wie nirgendwo in Europa, die Konzentration des Geschäfts ist enorm. So beherrschen die 30 größten Lebensmittelhändler etwa 97,5 Prozent des Marktes. Außer dem enormen Zuwachs an Verkaufsflächen - allein im vergangenen Jahrzehnt wurden es rund zehn Millionen Quadratmeter mehr - sehen die Konkurrenten in geringen Personalkosten, superlangen Öffnungszeiten und Preisschlachten entscheidende Faktoren bei der Umsatzjagd. Jetzt soll offenbar mit aller Macht eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt werden: In einem Wirtschaftszweig, in dem es mittlerweile mehr Teilzeit- als Vollzeitstellen gibt, die meist mit Frauen besetzt sind, droht eine weitere Prekarisierung.

Dabei gibt es schon jetzt viele skandalöse Baustellen. 300.000 oder zwölf Prozent aller Einzelhandelsbeschäftigten müssen für weniger als fünf Euro pro Stunde arbeiten. Und einige an ver.di-Tarifverträge gebundene Großkonzerne haben einen besonderen Trick drauf: Sie lagern originäre Handelstätigkeiten wie das Auffüllen der Regale an Fremdfirmen aus. Die SB-Warenhauskette real,- liefert ein solches Beispiel. In ihren Filialen räumen rund 2000 externe Kräfte die Ware für einen Hungerlohn ein - sie werden nach einem separaten Billigtarifvertrag entlohnt, den die Scheingewerkschaft DHV möglich gemacht hat. Er unterschreitet die Flächentarifverträge des Einzelhandels um rund 45 Prozent.

Die Verantwortung für diesen Skandal trägt auch der Mutterkonzern Metro, der im tarifpolitischen Ausschuss des HDE an der Seite anderer Großunternehmen seit einigen Monaten maßgeblich den Konfrontationskurs gegenüber ver.di beschleunigt. Alles nur Zufall? Erst ließen die Arbeitgeber die Gespräche über einen für alle verbindlichen Branchen-Mindestlohn ins Leere laufen, dann kündigten sie die Mitarbeit an dem Demografie- und Tarifprojekt ZusammenWachsen - ArbeitGestalten auf, das gute Arbeitsbedingungen während des gesamten Erwerbslebens zum Ziel hat. Und jetzt schwingen sie mit der Kündigung aller wesentlichen Tarifverträge den ganz großen Hammer.

Begründet wird der neue Kurs mit dem gescheiterten Projekt zur Reform des in Teilen veralteten Flächentarifvertrages, an dem beide Seiten seit 2003 beteiligt waren. "ver.di hält eine Überarbeitung der Tarifverträge weiter für dringend erforderlich und wir haben erklärt, nach der Entgeltrunde darüber verhandeln zu wollen", betont Tarifexperte Rüdiger Wolff. "Aber eine Modernisierung einseitig zu ihren Gunsten, wie sie die Unternehmer im Blick haben, lehnen wir ab."

Tätigkeiten, die mit der Realität nichts zu tun haben

2012 hatte man sich darauf verständigt, in ausgewählten Betrieben ein Grundkonzept für ein neues Entgeltsystem zu testen. Dabei sollten auch Daten über die bisherige Entgeltstruktur erhoben werden. Und wieder spielte auch die Führung von real,- eine negative Rolle. Die Arbeitgebervertreter lieferten Tätigkeitsbeschreibungen ab, die mit der Realität wenig bis nichts zu tun hatten und sich sehr ungünstig für das Personal auswirken würden. Das provozierte auch die Betriebsräte, die komplett aus der Datenerhebung ausstiegen. Andere Unternehmen weigerten sich, notwendige Zahlen offenzulegen oder akzeptierten Einwände der beteiligten Betriebsräte bei der oft zu geringen Bewertung der Arbeitsplätze nicht. "So konnte kein für den Einzelhandel repräsentatives Bild entstehen. Und es wurde klar, welches Ziel viele Arbeitgeber mit einem neuen Entgeltsystem verfolgen", sagt Rüdiger Wolff.

Nach Einschätzung von Hubert Thiermeyer, Verhandlungsführer von ver.di in Bayern, geht es den tonangebenden Unternehmen um die "Abwertung von Tätigkeiten und um die Absenkung der Einstiegsgehälter". In der tarifpolitischen Schaltzentrale des HDE habe sich die Fraktion der Dumpinglöhner durchgesetzt. "Widerstand ist Pflicht", sagt Silke Zimmer aus Nordrhein-Westfalen, dem größten ver.di-Landesbezirk. Auch in den anderen Tarifregionen beginnt jetzt die schrittweise Mobilisierung in den Belegschaften. Aufklärung wird zunächst bei Betriebsversammlungen und Tarifbefragungen geleistet. In Baden-Württemberg zeigt sich die Gewerkschaft gewohnt selbstbewusst. "Dass wir wirksam und ausdauernd streiken können, haben wir in den letzten Jahren immer wieder unter Beweis gestellt", so ver.di-Landesfachbereichsleiter Bernhard Franke. Ob die Tarifkommissionen an diese Erfahrungen anknüpfen müssen, liegt nun in der Verantwortung der Arbeitgeber.