Ausgabe 04/2013
Wir haben nichts mehr abzugeben
Proteste bei Karstadt und Amazon
"Extrem unverschämt" findet Marcel Schäuble, Betriebsrat bei real in Dreieich, die Haltung der Arbeitgeber im hessischen Einzel- und Versandhandel. Sie fahren einen bislang so nicht gekannten Konfrontationskurs. Wenige Stunden vor einem lange geplanten Verhandlungstermin Anfang Mai sagten sie ihre Teilnahme ab. Die Verhandlungskommission von ver.di saß vor leeren Stühlen. Da fühlte sich nicht nur ver.di brüskiert, auch die Beschäftigten waren sauer.
Wenige Tage vor diesem Termin hatten die Arbeitgeber den Manteltarifvertrag gekündigt. Dabei hatten sie angekündigt, ihre "hessenspezifischen" Gründe für die Kündigung zu erläutern. Das ist bis heute nicht geschehen. Hinzu kommt, dass Karstadt angekündigt hat, sich bis mindestens 2015 aus der Tarifbindung zu verabschieden.
Große Aktionsbereitschaft
ver.di Hessen verzeichnet eine große Aktionsbereitschaft und eine entschlossene Stimmung unter den Beschäftigten. Schon bis Mitte des Mai hatten in 15 vorwiegend südhessischen Einzelhandelsbetrieben mehr als 500 Beschäftigte die Arbeit niedergelegt. Weitere schlossen sich Ende Mai an, darunter Karstadt, real, Ikea, H&M und das Dehner Gartencenter. Beim Versandhändler Amazon in Bad Hersfeld wurde Mitte Mai zum ersten Mal gestreikt, insgesamt 1100 Beschäftigte in der Früh- und Spätschicht legten die Arbeit nieder. Ende Mai blockierten die Beschäftigten von Ikea Kassel ab 4 Uhr früh die Logistik.
Die hessische ver.di-Forderung in der diesjährigen Tarifrunde lautet: Ein Euro mehr pro Stunde, für Azubis 50 Cent pro Stunde mehr. Im Handel sind Stundenlöhne von fünf Euro keine Seltenheit, viele Beschäftigte können von den von ver.di als gesetzlicher Mindestlohn geforderten 8,50 Euro pro Stunde nur träumen.
Die Betriebsräte in Hessen sind sich einig: Unter dem scheinheiligen Begriff "Modernisierung" wollen die Arbeitgeber ans Eingemachte der Tarifverträge. Die Betriebsräte befürchten eine Flexibilisierung und den Wegfall planbarer Arbeitszeiten und die schlechtere Bezahlung von Kassierer/innen. Spätöffnungs- und Nachtarbeitszuschläge sollen nach dem Arbeitgeberwillen wohl wegfallen, eine Billiglohngruppe für Warenverräumer/innen eingeführt und der Durchstieg von Ungelernten zu Gelernten aufgehoben werden.
"Dabei", so Marcel Schäuble, "haben wir nichts mehr abzugeben." Durch Umstellungen habe man bereits in den vergangenen Jahren "viele Federn gelassen". Hinzu komme, dass bereits jetzt durch eine Neubewertung Tarifverträge uminterpretiert und Arbeitsplätze schlechter bezahlt werden. Die Arbeitsgerichte sind den damit verbundenen Abgruppierungen häufig gefolgt. Nun solle durch die Kündigung des Manteltarifvertrages neuer, stärkerer Druck auf die Entgelte aufgebaut werden.
Wettbewerbsvorteile auf Kosten der Beschäftigten
So sieht es auch Kerstin Kujau, stellvertretende Betriebsrats-Vorsitzende bei Karstadt in Viernheim"Eine der Ursachen für die Konfrontationshaltung mag sein, dass andere große Unternehmen nicht tarifgebunden sind und man sich nun bemüht, auf Kosten tariflicher Leistungen Wettbewerbsvorteile zu erhaschen." Für die Betriebsrätin ist das ein Holzweg. Schon heute sei das Personal so ausgedünnt, dass fachliche Beratungen kaum noch stattfinden könnten. Zudem stünden die Beschäftigten durch Mehrfachbelastungen, verlängerte Öffnungszeiten und verwirrende Verkaufsaktionen so unter Stress, dass der Krankenstand beachtlich gestiegen sei. "Da dreht es sich nicht um einen Schnupfen. Das geht richtig unter die Haut."