Im März haben die Arbeiterinnen und Arbeiter in ver.di ihre bundesweite Kampagne begonnen: Sie sammeln Unterschriften für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland, 50.000 sind bis Ende Oktober schon zusammengekommen, demnächst startet die Online-Petition an den Deutschen Bundestag

Freitagnachmittag, der Platz vor dem Stadion des FC St. Pauli füllt sich allmählich. In zwei Stunden beginnt das Spiel des Hamburger Zweitligisten. Die meisten Leute kommen in Schwarz oder Dunkelbraun - St.-Pauli-Fans eben. Eine Gruppe von zehn Frauen und Männern fällt auf; sie tragen leuchtend rote Jacken, ver.di-Jacken. Einzeln und zu zweit mischen sie sich unter die Menge, gehen immer wieder auf Leute zu. "Darf man euch mal ansprechen?", ruft Carsten Sander laut in eine Runde junger Männer, die gerade die Siegchancen ihrer Mannschaft diskutieren. "Wir sind von ver.di, Ehrenamtliche, und wir wollen, dass in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn für alle eingeführt wird."

Der Triebwerksmechaniker von der Lufthansa-Technik in Hamburg muss gar nicht weiter argumentieren. "Das ist gut", sagt einer der Angesprochenen sofort, und auch die anderen unterschreiben auf Sanders Unterschriftenliste. Ein Mann mit großem Schild "Suche Karte!" kommt heran, trägt sich auch ein und redet noch eine Weile mit Carsten Sander. Das erlebt Sander oft, seit die Arbeiter/innen bei ver.di Unterschriften für den Mindestlohn sammeln: "Du stehst noch zehn Minuten mit Leuten zusammen, die längst unterschrieben haben. Sie wollen ihre Meinung dazu sagen, was man in Deutschland am Monatsende ausgezahlt kriegt und was der Lebensunterhalt inzwischen kostet." Viele wollen ihren Frust rauslassen, auch über den eigenen Lohn, der hinten und vorne nicht reicht.

"Mindestlohn?" Nur ein paar Meter weiter unterbricht ein Mann mit Anti-Nazi-Sticker an der Mütze die ver.dianerin Melanie Hoppe gleich nach den ersten Worten. "Da bin ich dabei!"

Seit 2006 schon steht das Thema auf der Tagesordnung. Die Gewerkschaften ver.di und Nahrung - Genuss - Gaststätten (NGG) haben es damals in die Öffentlichkeit gebracht, die Diskussion in der Gesellschaft angestoßen und immer wieder dafür gesorgt, dass sie nicht versiegt. Viele Organisationen und Parteien haben es aufgegriffen. Jetzt, sieben Jahre nach dem Start, geht es nach der Bundestagswahl im Land um die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Ohne einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro werde es die nicht geben, erklären manche SPD-Politiker noch Ende Oktober.

Ey, mach mit!

"Aber das ist kein Grund für uns, mit der Kampagne aufzuhören", sagt Olaf Könemann, der Vorsitzende des ver.di-Landesarbeiterausschusses Hamburg, der seit Jahren Kolleg/innen für das Thema gewinnt. "Im Gegenteil! Wer weiß, was aus dem Versprechen der SPD wird. Und wir brauchen den Mindestlohn jetzt, nicht irgendwann, und schon gar nicht differenziert nach Ost und West. Das kommt für uns nicht in Frage!"

Könemann ist 47, er arbeitet seit 13 Jahren als Paketzusteller bei der Post. Dass alle von ihrer Arbeit in einem Vollzeitjob leben können und nicht beim Amt betteln müssen, ist ihm sehr wichtig. Das geht ihm nahe, dafür hält er auch sein Gesicht in die Kamera. Auf verdi.de kann man einen Videoclip mit ihm sehen: "Mindestlohn? Ey, mach mit! Und jetzt pass auf: Ich hab die Nase so voll... Ich will endlich wieder von meiner Arbeit leben können..." Man spürt: Hier liefert nicht ein Schauspieler seinen Auftritt ab, das ist echt. Und Könemann hat eine Botschaft: "Wir machen jetzt richtig Druck, und dann geht das schon / mit dem Mindestlohn!"

Auch 8,50 reichen nur knapp zum Leben

Die ver.dianerin Susi Kiesel diskutiert vor Anpfiff des St.-Pauli-Spiels, das sie sich ansehen will, mit einem Mann, der sich als Unternehmer bezeichnet. Er habe, erklärt er ihr, seine Produktion in die Slowakei verlagert. Wo angeblich 3,50 Euro pro Stunde für ein gutes Leben reichen. Susi Kiesel regt sich auf, aber sie weiß schon: Den gewinnt sie nicht für die Mindestlohnkampagne. "Manchmal ist es zäh", sagt die Postlerin. Aber sie weiß, 86 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland haben sich vor der Bundestagswahl für den gesetzlichen Mindestlohn ausgesprochen.

"Sogar meine Mutter sammelt inzwischen Unterschriften für unsere Kampagne. Und die ist 77!" Sie lacht. "Das Thema wird bei uns überall diskutiert, in dem Post-Depot, wo ich arbeite, aber auch in der Familie. Es ist doch eine Sauerei, dass sich Leute beim Amt Geld holen müssen, obwohl sie in Vollzeit arbeiten." Selbst 8,50 Euro reichten inzwischen nur noch knapp zum Leben, gibt sie zu bedenken. Alles, was darunter liege, sei einfach zu wenig.

Die Unterschriftensammlung der ver.di-Arbeiterinnen und Arbeiter läuft bundesweit, in Hamburg, Berlin und Bayern sind besonders viele Aktive dabei. Die Berliner/innen konnten auf den diesjährigen ver.di-Bundesarbeiter/innentagen im September 11.500 Unterschriften vorlegen, zusammengetragen in nur sechs Wochen; bundesweit haben bis Ende Oktober insgesamt 50.000 Menschen unterzeichnet. Die Berliner waren beim Sammeln in Betrieben und auf Veranstaltungen oft als "Agenten für den Mindestlohn" unterwegs, in schwarzem T-Shirt, mit Basecap und Sonnenbrille. So erregen sie Aufsehen, machen neugierig.

Entwickelt wurden Slogan und Outfit von Verbündeten der ver.di-Arbeiter/innen, dem Verein CLOF (Creative Lobby of Future). "Mit ihnen haben wir schon öfter zusammengearbeitet", sagt Rolf Wiegand, der stellvertretende Gesamtpersonalratsvorsitzende der Berliner Stadtreinigung und ehrenamtliche ver.di-Landesvorsitzende in Berlin-Brandenburg. Gemeinsam konnten sie viele Leute mobilisieren. Bewegt habe sie die Frage: Wie steht es um den Wert von Arbeiterinnen und Arbeitern bei uns? Um den Wert von Arbeit?

Seit 2006 arbeitet der Verein CLOF im Berliner "Haus der Demokratie". Er hat in Bündnissen wie UmFairteilen und "Freiheit statt Angst" mitgewirkt, die ver.di-Arbeiter/innen unterstützt er seit eineinhalb Jahren. "Und die Mindestlohnkampagne schließen wir erst dann ab, wenn er im Gesetz steht", so viel steht fest für die Aktiven bei CLOF im Haus der Demokratie.

Es ist kurz vor sechs, die Massen vor St. Pauli drängen ins Stadion. Susi Kiesel mitten unter ihnen. Auch Melanie Hoppe, die in der Logistik bei H&M arbeitet, verabschiedet sich jetzt eilig. Sie gibt Olaf Könemann ihre ausgefüllten Unterschriftenlisten, sie muss zur Nachtschicht. Die Aktion der ver.di-Arbeiter/innen wird für heute beendet. Bundesweit geht sie weiter, bald aber online. "Dass heute alle darüber reden, wie wichtig der gesetzliche Mindestlohn für Deutschland ist, das hat auch durch uns noch einmal einen Schub bekommen", sagt ver.di-Bundesarbeitersekretär Ralf Nix. "Deshalb machen wir weiter."

Nur noch 5000 Unterschriften

Es ist längst beschlossene Sache, wie das ablaufen wird: Wenn der Petitionsausschuss des neugewählten Bundestages im Amt ist, wird ver.di diesem Gremium die bis dahin gesammelten Unterschriften überreichen, und das öffentlich, nicht bescheiden im stillen Kämmerlein. 55.000 Unterschriften sollen es auf jeden Fall werden. Dann folgt die Online-Petition nach der Unterschriftensammlung auf Papier. Für vier Wochen wird sie im Internet freigeschaltet. Damit sich in der Zeit nochmals Tausende beteiligen können.


Auffallen für eine gute Sache: Berliner Agenten für den Mindestlohn in Aktion

"Mindestlohn jetzt!

Unterstützt die Petition!

Der deutsche Bundestag möge einen einheitlichen, allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde beschließen, der möglichst schnell auf 10 Euro (brutto) ansteigt.

Der gesetzliche Mindestlohn wirkt flächendeckend, branchenübergreifend und hat immer Vorrang, auch wenn Tarifverträge niedrigere Entgelte enthalten. Er gilt für jede Erwerbsarbeit und jede Beschäftigungsform in Deutschland."

Aus dem Aufruf der ver.di-Arbeiter/innen

www.arbeiter.verdi.de

www.initiative-mindestlohn.de

www.clof.eu

www.facebook.com/AgentenFurDenMindestlohn

Hier geht's zum Videoclip mit dem Mindestlohn-Rap auf ver.di.de! Einfach den QR-Code mit einem Smartphone scannen.

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