Ausgabe 03/2014
Rot heißt: Danke das war's
Am 12. Juni soll in Brasilien der Anpfiff zur WM 2014 erfolgen. Doch längst sind nicht alle Stadien fertig gebaut. Tausende Bauarbeiter arbeiten unter Hochdruck an ihrer Fertigstellung. Einige haben das mit ihrem Leben bezahlt, aber viele Bauarbeiter haben mit Hilfe der Gewerkschaften auch höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchgesetzt
von Christine Wollowski
Eine Welt in Grau, Weiß und Orange: Am Corinthians-Stadion, in dem das Eröffnungsspiel der Fußball-WM 2014 in Brasilien stattfinden soll, wird noch gebaut und rundherum auch
66 Tage noch. Dann sollen hier Brasilien und Kroatien die WM eröffnen. Wer an diesem sonnigen Aprilmorgen aus der U-Bahnhaltestelle Corinthians-Itaquerão im Osten von São Paulo kommt, betritt eine Welt in Grau, Weiß und Orange: Arbeiter in Orange hämmern und klopfen die Pflastersteine auf dem Platz vor dem Stadion zurecht, andere zeichnen Markierungen ein, wieder andere haben sich auf den wenigen Schattenplätzen zur Frühstückspause niedergelassen. Weiß ragen riesige Kräne in den blauen Himmel. Davor ruht massig das betongraue Stadion wie ein aus einer anderen Welt gelandetes Flugobjekt. Presslufthämmer und Motoren dröhnen, Maschinen im Rückwärtsgang piepsen, Sirenen heulen. Auf der Fußgängerbrücke, die von der U-Bahn zur Stadionauffahrt führt, stehen vereinzelte Männer und gucken dem Treiben zu. Arbeitslose Anwohner vielleicht: Die Arena Corinthians mit ihren gepflegten Grünflächen liegt inmitten einer Reihe von Slums mit so wohlklingenden Namen wie Vila da Paz oder Jardim Marabá und einem Alltag voller Gewalt. Der Osten der Riesenstadt São Paulo ist besonders dicht besiedelt und verfügt gleichzeitig über die schwächste Infrastruktur.
VIP-Lounges in der Ausstattung von Designerlofts
Der Prestigebau für 48.000 Zuschauer mit Marmorlobby und VIP-Lounges in der Größe und Ausstattung von Designerlofts, für den der Verein Corinthians ursprünglich 820 Millionen Reais (rund 280 Millionen Euro) bezahlen sollte, kostet inzwischen bereits 930 Millionen Reais. Die Stadt hat sich mit Steuererleichterungen in Höhe von 420 Millionen Reais an den Kosten beteiligt, der Bundesstaat hat weitere 60 Millionen für die zusätzlichen provisorischen Tribünen beigesteuert, die nach der WM wieder abgebaut werden. Die Finanzierung von Details wie der Fifa-gemäßen Ausstattung der VIP-Lounges und Geschäfte war bis vor kurzem ungesichert. Muss so viel Luxus sein? Schließlich soll das Stadion die Stadtentwicklung fördern und die Lebensqualität der Anwohner heben, indem es Unternehmen anzieht und Investitionen in Bildung nach sich zieht. So zumindest stellte es der Geschäftsführer der Baufirma Odebrecht - einer der größten Bauträger Brasiliens - im vergangenen Jahr in Aussicht.
Will menschenwürdige Wohnungen, Rose Dalva Alves, Slumbewohnerin
"Alles Lüge", sagt hingegen Rose Dalva Alves, Vorsitzende des Einwohnervereins im Slum Cidade AE Carvalho. "Wie viele haben hier morgens um sechs in den Schlangen gestanden, um einen Job zu finden? Kaum jemand ist genommen worden! Und überhaupt: Wir brauchen kein Stadion, wir brauchen menschenwürdige Wohnungen!" In der Cidade AE Carvalho leben die Menschen in unverputzten Häusern oder aus Möbelresten zusammen gezimmerten Bretterbuden, an denen stinkende Abwässer vorbeifließen. Manche der Bewohner fürchten, auch diese Behausungen räumen zu müssen, um der Stadion-Zufahrtsstraße Radial Leste Platz zu machen. Vom oberen Teil ihres Slums können sie die Arena sehen. Mehr haben sie nicht davon.
Andere Slums wie die Vila da Paz, ebenfalls neben dem Stadion, versuchen, die Aufmerksamkeit der Medien zu nutzen, um von der Stadt eine legale Strom- und Wasserversorgung zu erkämpfen. Und Neuza da Silva aus einem anderen Stadtteil hat sogar einen Weg gefunden, durch die Baustelle ihre Existenz zu sichern, jedenfalls vorübergehend. Auf dem Zugangsweg zum Osteingang bietet sie auf einem grob gezimmerten Holztisch unter einem Sonnensegel Kaffee und Kekse für die Arbeiter an. Das macht sie seit drei Monaten, der Umsatz steigt täglich: "Es werden immer mehr", sagt sie, "ist ja klar, jetzt zum Endspurt."
Unglaublich was wir geschafft haben
Die Weltpresse berichtet regelmäßig über die Verzögerungen auf den brasilianischen WM-Baustellen und besonders bei den Stadien. Schlechter noch als Südafrika schneide das Schwellenland ab. Anfang 2014, als alle zwölf Arenen fertig sein sollten, war nur die Hälfte offiziell eingeweiht. Korruptionsskandale bei Baufirmen verzögerten ebenso den Prozess wie Proteste und Arbeitsniederlegungen der Bauarbeiter. Mehrere Unfälle mit Todesfolge verursachten zudem temporäre Baustopps. 2007, als Brasilien den Zuschlag für die WM erhielt, sah Präsident Lula das als Chance für sein Land, das sich gerade unter die größten Wirtschaftsmächte der Erde einreihte.
Heute ist der Blick der Welt auf die Vorbereitungen zur WM fast ein Fluch für seine Nachfolgerin Dilma Rousseff, die mit einem stagnierenden Wachstum, ungelösten Sicherheitsproblemen und Massenprotesten gegen Preissteigerungen und Großinvestitionen in Fußball statt Bildung und Gesundheitswesen zu kämpfen hat. Öffentlich spricht die erste Frau im Staat natürlich weiterhin davon, dass diese Meisterschaft, "die WM der WMs werden wird".
Am Eingang der Arena Corinthians ist die Stimmung erstaunlich gelassen. Unter der provisorischen Rezeption schläft ein Terrier, vor der Erste Hilfe-Station plaudern ein paar Männer; von Hektik oder Druck ist nichts zu spüren. Almir de Araujo, der Sicherheitsbeauftragte des Bauträgers Odebrecht, ist ein starker Mann mit leuchtend blauen Augen. "Ich bin 20 Tage vor Baubeginn im April 2011 angekommen", sagt er, "da haben hier nur ein paar Jungs vom Nachwuchs des Corinthians trainiert. Wenn ich sehe, wie es jetzt hier aussieht, das ist schon unglaublich, was wir geschafft haben: ein Stadion wie in der Ersten Welt!" In der Eingangshalle ganz in schwarzem Granit und hellem Marmor mit schwindelnder Deckenhöhe läuft laute Popmusik. Auch wenn überall Staub wirbelt und der Marmor teilweise unter Schutzpappen verborgen ist, liegt eine Feststimmung in der Luft, als gehe das Eröffnungsspiel gleich los.
Dabei sind die Arbeiten stark in Verzug geraten, als Ende November ein stürzender Kran das 420 Tonnen schwere Teil der Metallkonstruktion für die Überdachung fallen ließ. Dabei wurden zwei Arbeiter getötet und Teile der Tribüne und der Ostfassade zerstört. Ursprünglich sollte das Stadion Ende Dezember fertig sein, jetzt wird eine "teilweise Einweihung" im April und eine Übergabe am 15. Mai angestrebt, weniger als einen Monat vor dem WM-Start. Momentan sind knapp über 1500 Arbeiter in Früh- und Spätschicht am Werk. Mehr als 2000 waren es noch vor einem Jahr in der heißesten Bauphase.
Bei tödlichen Arbeitsunfällen weltweit auf Platz vier
Die Gewerkschaft der Arbeiter der Ingenieurbauindustrie, Sintrapav, begleitet den Stadionbau von Beginn an. Zwei Direktoren sind, wie auch bei den anderen WM-Großbaustellen in São Paulo, fast täglich vor Ort. Einer davon ist Geovani Rocha. "Bei meinem Rundgang achte ich auf alles: Wie sauber die Toiletten sind, ob die Arbeiter Helm und Schutzbrille tragen, wie gut und abwechslungsreich das Essen ist." Am häufigsten entdecke er Sicherheitsmängel: "Meistens, weil Arbeiter die Schutzkleidung nicht tragen. Einmal hat sich einer vor meinen Augen in die ungeschützte Hand gebohrt - kein wirklich schlimmer Unfall, aber vermeidbar." Sicherheitsfachmann Almir de Araujo sagt: "Das größte Risiko besteht immer bei den Arbeiten in großer Höhe."
Claudio Santana ist Spezialist für Arbeiten in bis zu 130 Meter Höhe
Genau die sind die Spezialität von Claudio Santana. Zurzeit montiert er Lautsprecher über den Tribünen. "Das sind maximal 55 Meter Höhe - für mich kein Problem", sagt der muskulöse ehemalige Wachmann. Er sei es gewohnt, auf bis zu 130 Metern zu arbeiten, doch an engen Stellen könne ihm auch mal flau im Magen werden. Angst vor Unfällen habe er keine. Wenn einem Kollegen etwas passiere, "kontrolliere ich anschließend noch öfter meine Schutzausrüstung, meine Seile und Haken, mache eine Inspektion außer der Reihe", sagt Santana. "Und wir versuchen, die Gründe für einen Unfall zu verstehen, um einen weiteren zu verhindern." Auch bei knappen Fristen auf der Baustelle gehe die Sicherheit immer vor.
Am vergangenen Samstag ist trotzdem ein Mann zu Tode gestürzt. Manche Medien schreiben, der Arbeiter sei für seine Tätigkeit nicht angemessen geschult gewesen. Anderswo heißt es, er habe keine Schutzkleidung getragen. Laut Polizeibericht "ist die Baustelle ordnungsgemäß" vorgefunden worden. Fábio Hamilton da Cruz ist der achte Tote auf den WM-Baustellen und der dritte im Corinthians-Stadion. Brasilien liegt bei tödlichen Arbeitsunfällen weltweit auf Platz vier. Die meisten davon geschehen im Bauwesen.
Die Situation der Bauarbeiter insgesamt ist problematisch: Eine vom Arbeitgeber finanzierte Krankenversicherung ist die Ausnahme, Überstunden werden unterschiedlich abgegolten und einen überregionalen Tarifvertrag gibt es gar nicht. Gearbeitet werden mindestens 44 Stunden pro Woche - meistens mehr, um den Lohn aufzubessern. In São Paulo liegt der Monatsverdienst mit 980 Reais (325 Euro) für Hilfsarbeiter immerhin ein Drittel über dem Mindestlohn. Anderswo verdienen die Arbeiter in Stadien nur 724 Reais (239 Euro), knapp mehr als der Preis einer Mietwohnung im Slum.
Nach dem Mittag wird schon mal eine Runde gekickt
Schon 2010, lange vor Baubeginn, versuchte die internationale Gewerkschaftsvereinigung ICM mit einem Manifest ein gemeinsames Vorgehen zu fördern: "Bei uns in Brasilien gibt es viele verschiedene Gewerkschaftszweige mit eigenen Zentralen. Sie hatten noch nie zusammen gearbeitet, bis die ICM ihre Kampagne ,Menschenwürdige Arbeit vor und nach 2014' gestartet hat", sagt Marina Gurgel, Koordinatorin der Kampagne in Brasilien. "Anfangs waren nur fünf hiesige Gewerkschaften bei uns organisiert, inzwischen sind es 27 - diese neue Einigkeit der Arbeitnehmervertretungen ist das beste Erbe, das die Aktion nach der WM hinterlassen wird."
Kurse während der Arbeitszeit
Die Forderung nach einem einheitlichen Tarifvertrag bleibt vorläufig weiter ein unerreichtes Ziel. Aber einige Regionalgewerkschaften haben mit einzelnen Baufirmen schon um mehr als 20 Prozent bessere Löhne, zusätzliche Nahrungsmittelgutscheine und eine vom Arbeitgeber finanzierte Krankenversicherung ausgehandelt. In der Corinthians-Arena gab es zunächst nicht einmal Forderungen nach Verbesserungen. "Das war nicht leicht für uns, die Leute haben sich einfach nicht beschwert", sagt Geovani Rocha, der Mann von Sintrapav, "sie wollten höchstens irgendwo einen Trinkwasserbehälter oder einen zusätzlichen Ventilator." Die Firma Odebrecht habe zwar keine Spitzenlöhne gezahlt, aber vor allem anfangs viel für die Arbeiter getan: Feste zu Ostern mit Schokoladeneiern für die Kinder etwa, oder Familientermine, bei denen die Angehörigen der Arbeiter das Stadion kennenlernen konnten, Alphabetisierungs- und Computerkurse während der Arbeitszeit. "Durch die engen Fristen für die WM-Bauten mussten die Firmen vermehrt einstellen und deswegen Leute schulen und gute Konditionen bieten." Noch herrscht wegen der vielen Großbaustellen Arbeitermangel in São Paulo. Rocha und Kollegen wollen mindestens den Anspruch auf Essensgutscheine noch in der aktuellen Tarifrunde im Mai im Tarifvertrag festschreiben lassen, denn "wenn der Wahnsinn dieser WM erstmal vorbei ist, dann wird es wieder schwierig", sagt der Sicherheitsbeauftragte der Gewerkschaft, Rosevaldo Oliveira.
Die Gewerkschafter Rosevaldo Oliveira und Geovani Rocha
Ein Mittagessen wiegt im Schnitt fast ein Kilo
Was der Gewerkschaftsmann mit Wahnsinn meint, ist an der Baustelle am Flughafen Guarulhos in der Mittagspause zu beobachten. Fast wird einem schwindelig beim Anblick all der Menschen, die aus der Kantine kommen. Schlurfend oder hastend, mit Zahnstocher im Mund oder Kopfhörer auf dem Kopf. Junge und Alte, in gelben oder blauen Overalls und alles Männer. Etwa 12.000 Menschen arbeiten daran, dass das neue Terminal inklusive Landepisten und Parkplätzen rechtzeitig fertig wird. In drei Schichten, an die fast alle, egal ob um halb vier nachmittags oder um vier Uhr morgens, noch zwei Überstunden pro Tag dranhängen.
Wo solche Massen zusammen kommen, entstehen leicht Tumulte. Vermutlich sind deswegen die Tische und Hocker in der Kantine fest im Boden verankert. Die Essenspause pfercht bis zu 2500 Männer in einem überdachten Raum zusammen, in dem es stickig und laut ist. Konsequent lassen manche ihre Ohrstöpsel auch in der Pause drin. An Selbstbedienungseinheiten können sich die Männer nach Belieben Reis, Bohnen, geröstetes Maniokmehl und Salat auf den Teller laden. Dazu kommen zwei großzügige Portionen Fleisch. Der Essensberg auf so einem Arbeiterteller wiegt im Schnitt fast ein Kilo. Pro Tag verzehrt das Arbeiterheer eine Tonne Reis - eine ganze Lkw-Ladung.
Nach dem Essen lassen sich viele einfach irgendwo auf den Boden neben der Kantine oder in dem Baustaub sinken und dösen oder schlafen die restlichen Pausenminuten, manche mit Schutzhelm und Brille. Die anderen grölen und lachen an den Tischfußball- und Billardtischen nebenan, knallen Domino- oder Damesteine auf die Spieltische zum Dampfablassen. Dazu dröhnen Brasilpop, Tanzlieder und die fröhlichen Moderatorenstimmen des Firmen-Radiosenders aus allgegenwärtigen Lautsprechern. Unterhaltungen sind dabei höchstens schreiend möglich. Die meisten versuchen gar nicht erst, miteinander zu sprechen. Sie stehen unter Druck, weil es keine Beschäftigungsgarantie auf brasilianischen Baustellen gibt. Die Baufirma OAS hat ein System mit Leuchtsignalen an der Stechuhr eingeführt. Grün bedeutet: Du bist morgen noch dabei. Rot heißt: Danke, das war's. Vielleicht soll deswegen kein Reporter einfach so mit einem beliebigen Arbeiter sprechen. Zu leicht könnte Unzufriedenheit an die Öffentlichkeit geraten.
2500 Bauarbeiter haben gleichzeitig in der Kantine Platz, Tische und Hocker sind fest im Boden verankert
Die Einheit unter den Arbeitern
Dass es tatsächlich Proteste gegeben hat, erzählt dann einer der ausgesuchten drei Mitglieder der unter den Arbeitnehmern gewählten Kommission aus Arbeitern und Gewerkschaftern, die vor fast einem Jahr gegründet worden ist. Nach der ersten Arbeitsniederlegung. "Wir hatten festgestellt, dass Vorarbeiter und andere hierarchisch Höhergestellte mehr Vergünstigungen bekamen als wir", sagt der Maurer Anderson Mendes da Silva. "Im vergangenen Juni haben wir die Arbeit einen Tag lang spontan niedergelegt. Die Proteste im ganzen Land haben uns inspiriert. Am gleichen Abend hatten wir schon die ersten Zusagen von der Geschäftsleitung. Das war ein unglaublich gutes Gefühl, diese Einheit unter den Arbeitern zu spüren und zu merken, was wir damit erreichen konnten." Nach zwei weiteren Arbeitsstopps waren Krankenversicherung und Nahrungsmittelgutscheine durchgesetzt, die in bestimmten Supermärkten eingelöst werden können.
Dreimal wöchentlich sitzen seitdem drei Mitglieder der Kommission in einem Zimmer mit Internet und Telefon und hören sich Klagen ihrer Kollegen an, die sie anonym an die Firma weitergeben. So kurz vor Bauende weichen die Beschwerden allmählich der Angst vor der Kündigung: "Was ist, wenn ich morgen rotes Licht bekomme?", fragt ein junger Mann an der Tür unsicher. "Habe ich das Recht auf eine Abfindung? Ich habe gerade ein Auto auf Raten gekauft." Anderson Mendes da Silva sagt: "Arbeiter bleiben nie auf derselben Baustelle. Aber wenn ich nicht mehr hier bin, werde ich anderswo durchsetzen, was wir hier erkämpft haben, auch nach der WM."