Ausgabe 05/2014
Geringverdiener entlasten
Sie trifft es am härtesten
von Henrik Müller
Auf nichts sind Politikerinnen und Politiker aller Couleur so stolz wie auf einen ausgeglichenen Etat oder gar Haushaltsüberschüsse, als sei es das allein selig machende Ziel aller Politik. Im nächsten Jahr soll die Bundesrepublik Deutschland unter schwarz-roter Regierungsverantwortung erstmals nach Jahrzehnten keine neuen Kredite mehr aufnehmen - und das ohne jegliche Steuererhöhungen. Steuersenkungen soll es aber ebenfalls keine (mehr) geben. Deshalb ist Finanzminister Wolfgang Schäuble, CDU, recht hartleibig gegenüber Ambitionen der Koalitionspartners SPD, die sogenannte kalte Progression bei der Lohn- und der Einkommenssteuer abzuschaffen.
Dieser Begriff wabert nun seit Jahren durch Politik und Medien, und jede/r meint ein bisschen was anderes damit. Der eine will sie abschaffen, der andere findet sie nicht so schlimm. Ein paar Monate später ist es umgekehrt. Meistens wird unter "kalter Progression" die Tatsache verstanden, dass Lohnerhöhungen zum Teil von der laufenden Geldentwertung (Inflation) aufgezehrt werden, manchmal sogar komplett, die Kaufkraft also nicht oder nur wenig steigt, aber dennoch ein etwas höherer Steuersatz fällig wird.
Mit der "kalten Progression" sind allerdings auch Horrorgeschichten verbunden, zum Beispiel die, dass ein Arbeitnehmer nach einer Lohnerhöhung möglicherweise weniger im Portemonnaie habe als vorher. Das ist so, als würde jemand behaupten, dass sechs plus eins fünf ergibt. Zwar steigt bei Monatseinkommen zwischen 900 und 6000 Euro (in Westdeutschland) bei einer Lohnerhöhung das Nettoeinkommen - nach dem Abzug von Lohnsteuer und Sozialabgaben - prozentual weniger stark als der Bruttolohn; aber stets bleibt von einer Lohnerhöhung netto mindestens die Hälfte übrig, die andere Hälfte fließt in die Sozialversicherungen und eben in die Lohnsteuer.
Eine Abschaffung der kalten Progression wäre nach alledem also keine Steuersenkung, sondern lediglich der Stopp einer permanenten, versteckten und damit wohl auch rechtswidrigen Steuererhöhung für die meisten Arbeitnehmer/innen und viele Rentner/innen. Jeder Finanzminister kalkuliert bei seinen Haushaltsplanungen diese Steuererhöhung als willkommene Zusatzeinnahme fest ein: alljährlich rund drei Milliarden Euro. Aber weil Besser- und Gutverdiener laufend Klage führen, durch die "kalte Progression" würden gerade sie als "Leistungsträger schleichend enteignet" (stern), forderte noch vor zwei Monaten der Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses im Bundestag, Peter Ramsauer, CSU, der Bild-"Zeitung" gegenüber großspurig: "Wenn es ernst gemeint ist, dass Leistung sich lohnen muss, dann muss sie weg!"
Leistungsträger Geschröpft?
Als "Leistungsträger" bezeichnen sich gewöhnlich Leute, die von sich glauben, allein sie seien es, die unsere Gesellschaft durch fleißige Arbeit voranbringen und deshalb mehr oder viel mehr verdienen als andere. Sie fühlen sich vom Staat besonders stark geschröpft, was ihre Motivation zur Arbeit bremse. Wenn man die Bezeichnung "Leistungsträger" anders definiert, trifft das tatsächlich zu: Wenn man als Leistungsträger diejenigen ansieht, die in unserer Gesellschaft viel ungeliebte Arbeit und oft auch die Drecksarbeit leisten und dafür besonders mies bezahlt werden, dann sind es tatsächlich sie, die von der kalten Progression besonders stark betroffen sind.
Selbst das kapitalfreundliche Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) kommt - im Auftrag der Propagandamaschine Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) - nicht um die Feststellung herum: "Vor allem die Geringverdiener leiden unter der kalten Progression. Bezieher niedriger Einkommen werden durch die kalte Progression prozentual höher belastet als Steuerpflichtige mit hohen Einkommen." Sie sei sozial ungerecht und müsse beseitigt werden, so INSM-Geschäftsführer Hubertus Pellengahr. In der Tat: Wer über ein Monatseinkommen von 6000 Euro brutto und mehr verfügt, ist von der "kalten Progression" umso weniger betroffen, je mehr er einnimmt. Da tendiert die Progression am Ende gegen Null. Und das dürfte dem hehren Prinzip der Besteuerung nach individueller wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit nun wirklich widersprechen.
Und weil andererseits insbesondere die Beschäftigten, die von der Einführung des Mindestlohns von 8,50 Euro die Stunde profitieren, von dem Progressionsverlauf des Einkommenssteuertarifs besonders negativ betroffen wären, fordert der DGB-Bundesvorstand in einer aktuellen Stellungnahme u. a., "den steilen Anstieg des Grenzsteuersatzes oberhalb des Grundfreibetrags abzumildern", und zwar nicht am Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern sofort, nämlich zum 1. Januar 2015. Um das zu finanzieren, bekräftigt der DGB seine Forderungen, den Spitzensteuersatz der Einkommenssteuer anzuheben, große Erbschaften endlich angemessen zu besteuern, die Vermögenssteuer wiederzubeleben, die Gewerbesteuer zu stärken, den Körperschaftssteuersatz zu erhöhen und gleichzeitig die Abschreibung von Investitionen im Betrieb zu verbessern, einen effektiven Steuervollzug zu organisieren und schließlich den Kampf gegen Steuerbetrug und Steueroasen zu intensivieren.
Schon die schwarz-gelbe Koalition hatte sich den Abbau der kalten Steuerprogression auf die Fahnen geschrieben, war damit 2012 aber an der Mehrheit von SPD und Grünen im Bundesrat gescheitert. Jetzt ist es Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, die ein schnelles Ergebnis ausschließt: "Wenn sich finanzielle Spielräume ergeben, wird die Koalition darüber reden, aber auf absehbare Zeit sehe ich diese Spielräume nicht", so die Kanzlerin in der Rheinischen Post. Begründung: Schwarz-Rot habe sich entschieden, lieber erst mal "keine neuen Schulden zu machen".