Im zehnten Jahr von Hartz IV verfügen nach Angaben des Landesamtes für Statistik knapp 1,2 Millionen Menschen in Niedersachsen (das sind 15,8 Prozent der Bevölkerung) über weniger als 860 Euro im Monat, gelten also als "arm" oder "von Armut bedroht". Zu ihnen zählen zunehmend Kinder und Rentner/innen.

Zudem hat die prekäre Beschäftigung erheblich zugenommen: Ein wachsender Niedriglohnsektor und eine fallende Lohnquote haben laut einer aktuellen DGB-Studie die wirtschaftliche Lage der Menschen massiv verschlechtert. Die Zahl der erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger/innen lag im Jahr 2014 bei knapp 413.000 und war damit genauso hoch wie vor zehn Jahren. Knapp die Hälfte der Betroffenen gilt als langzeitarbeitslos. Zudem konnten 127.000 Menschen in Niedersachsen nicht von ihrer Arbeit leben und waren auf Aufstockungsleistungen angewiesen, die Land und Kommunen mit 1,2 Milliarden Euro belasteten. Der DGB Niedersachsen-Bremen und ver.di sind sich einig: Die Hartz-IV- Reformen von 1995 sind ein "Desaster für Beschäftigte und Arbeitslose".

Hartz IV bedeutet vor allem massiven Druck auf Arbeitssuchende, auch prekäre Jobs mit Niedriglöhnen und miesen Arbeitsbedingungen anzunehmen: Leiharbeit, befristete Jobs, Mini-Jobs und Teilzeitarbeit wurden stark ausgeweitet. Fast eine Million Menschen, ein Viertel aller Beschäftigten im Niedersachsen, arbeiten inzwischen für weniger als 10 Euro pro Stunde. Das sind 200.000 mehr als 1994. Für jeden Einzelnen bedeutet Hartz IV einen Regelsatz von neuerdings maximal 399 Euro, der deutlich unterhalb der Armutsschwelle liegt und beispielsweise monatliche Bildungsausgaben von lediglich 1,49 Euro enthält, wie das Landesamt für Statistik mitteilt. ver.di-Landesleiter Detlef Ahting wie auch DGB-Bezirksvorsitzender Hartmut Tölle fordern daher eine "Umkehr nach dem Irrweg".

Armut in Europa und Niedersachsen

Nach der Finanzkrise ab 2008 sind Arbeitslosigkeit und Armut nicht nur in Griechenland, Spanien oder Portugal das gesellschaftliche Problem Nr. 1. Auch Deutschland und gerade Niedersachsen sind betroffen. Der Kölner Politikwissenschaftler und Armutsexperte Christoph Butterwegge sprach auf einer Fachtagung der Landesarmutskonferenz in Hannover von einer zunehmenden "Spaltung der Gesellschaft" infolge von Hartz IV und Arbeitslosigkeit.

Die Landesarmutskonferenz, ein breites Bündnis von Sozialverbänden mit DGB und ver.di, vergleicht die gegenwärtige Entwicklung mit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. In vielen EU-Ländern gebe es neben absoluter Armut vielfach Obdachlosigkeit oder steigende Selbstmordraten. "Immer mehr Menschen leiden Hunger und sind auf Lebensmittelspenden angewiesen, um überhaupt zu überleben." Das Deutsche Rote Kreuz zähle 45 Prozent mehr Menschen, die um Lebensmittelspenden nachfragen, hieß es auf der Fachkonferenz "Grenzen der Gerechtigkeit? Armut in Europa und Niedersachsen".

In einer gemeinsamen Erklärung forderte das Bündnis eine allgemeine existenzsichernde Grundsicherung für alle, angemessenen Wohnraum und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, ein Investitions- und Beschäftigungsprogramm der EU gegen die Arbeitslosigkeit sowie höhere Steuern auf hohe Einkommen. Vermögen und Unternehmensgewinne sollen soziale Ungleichheit verringern und die Lage der öffentlichen Finanzen verbessern.