Ständig hoher Zeit- und Leistungsdruck, häufige Arbeitsunterbrechungen oder Informationsüberflutung zerren an den Nerven vieler Beschäftigter. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen, wenn zu jeder Zeit und an jedem Ort Informationen bearbeitet und Termine vereinbart werden können. Häufige Umstrukturierungen verunsichern und stellen hohe Anforderungen an die Flexibilität der Belegschaften. Gleichzeitig wächst durch die neuen Informationssysteme die Transparenz im Arbeitsprozess, der Einzelne fühlt sich dauernd kontrolliert und auf Bewährung. Kein Wunder also, dass die psychischen Erkrankungen in den letzten Jahren nahezu explodieren, wie die Krankenkassen berichten. Nach Angaben der DAK entfallen 14,6 Prozent der krankheitsbedingten Fehlzeiten auf ihr Konto. Bereits 40 Prozent der Frühverrentungen sind durch psychische Erkrankungen bedingt.

Rückenwind für Betriebsräte

Nach dem DGB-Index Gute Arbeit, der jährlichen Repräsentativbefragung zur Arbeitsqualität, geben 56 Prozent der Arbeitnehmer/innen an, oft gehetzt zu arbeiten oder unter Zeitdruck zu stehen. Mehr als 60 Prozent sagen, dass sie mehr Arbeit in der gleichen Zeit schaffen müssen. Laut Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin erledigen fast 60 Prozent verschiedene Arbeiten gleichzeitig. Jeder Zweite führt ständig wiederkehrende Arbeitsvorgänge aus. Es wurde also höchste Zeit, als Ende 2013 im Arbeitsschutzgesetz die Berücksichtigung psychischer Belastungen bei der Gefährdungsbeurteilung festgeschrieben wurde.

Erstmals gibt es nun zusätzlich zu einer Erklärung zur psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt gemeinsame "Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung". Sie wurden unter Mitwirkung von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und den Trägern der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) erarbeitet und richten sich an Unternehmen und betriebliche Arbeitsschutzakteure. Betriebs- und Personalräte werden dabei ausdrücklich genannt. Das bedeutet Rückenwind für die betrieblichen Interessenvertretungen, um jetzt in jedem Betrieb und jeder Verwaltung psychische Belastungen bei der Gefährdungsbeurteilung zu berücksichtigen. Die Empfehlung erläutert in sieben Schritten, wie Risiken für die Psyche analysiert, passende Gegenmaßnahmen entwickelt, umgesetzt und auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden. Festgestellt wird, dass die Pflicht zur Gefährdungsbeurteilung "der Prävention von Unfällen und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren einschließlich der menschengerechten Gestaltung von Arbeit" dient. Dazu nimmt die Gefährdungsbeurteilung Arbeitsaufgaben und -abläufe sowie die sozialen Beziehungen in den Blick. Auch die Auflistung unterschiedlicher Verfahren zur Ermittlung psychischer Gefährdungen ist ein Fortschritt. Neben Arbeitsplatzbeobachtungen sind Mitarbeiterbefragungen und moderierte Workshops vorgesehen. Die Beschäftigten kommen also selbst zu Wort - ein Schritt nach vorn, denn bislang haben es die Arbeitgeber meist abgelehnt, psychische Störungen als arbeitsbedingt anzusehen und Handlungsbedarf in den Betrieben anzuerkennen.

Gewerkschaften wollen Anti-Stress-Verordnung durchsetzen

Seit längerem fordern Gewerkschaften und die Länder im Bundesrat zudem eine Anti-Stress-Verordnung. Auch mehr als die Hälfte der Beschäftigten sprechen sich dafür aus, wie eine repräsentative Befragung der DAK ergab. Bei den Befürwortern sind 86 Prozent für eine verbindliche Verordnung, da Stress aus ihrer Sicht zu körperlichen und psychischen Erkrankungen führt. 78 Prozent meinen, die Beschäftigten könnten sich aus Sorge um ihren Arbeitsplatz kaum selbst gegen Arbeitsstress wehren.

ver.di macht sich für die umfassende Verankerung psychischer Gefährdungen im Arbeitsschutzrecht stark. In einer Verordnung müssten die Pflichten der Arbeitgeber konkretisiert und "exakte Anforderungen an eine Gefährdungs- beurteilung psychischer Belastungen benannt werden", sagt Dr. Horst Riesenberg-Mordeja vom Referat Arbeitsschutz/Unfallversicherung bei ver.di. Zudem sei die Beteiligung der betrieblichen Interessenvertretungen dabei verbindlich zu regeln und die Mitbestimmung im Arbeitsschutzrecht für die Personalvertretungen zu stärken. Ein Verstoß gegen die Verordnung müsse sanktioniert werden. Die Gewerkschaft fordert deshalb auch eine bessere personelle Ausstattung der Gewerbeaufsicht und Unfallversicherung, damit die Betriebe besser überwacht und Mängel beim Umgang mit psychischen Belastungen geahndet werden können, denn "die Gefährdung der Gesundheit der Beschäftigten wird immer noch als Kavaliersdelikt behandelt", kritisiert der Gewerkschafter. Psychische Anforderungen mit Branchenbezug (etwa in Callcentern, in der Krankenpflege oder in Kitas) sollten in branchenspezifischen Regeln der Unfallversicherung für die Betriebe das Handlungsfundament liefern. Dass der Psychostress bei der Arbeit inzwischen diese Aufmerksamkeit erhält, ist vor allem den Gewerkschaften zu verdanken.

Online-Tipps von ver.di

Bei der Gefährdungsbeurteilung haben Betriebs- und Personalräte maßgebliche Mitbestimmungsrechte. Sie können dafür sorgen, dass psychische Belastungen einbezogen, Gesundheitsrisiken aufgedeckt und daraus Verbesserungsmaßnahmen abgeleitet werden. ver.di hat dazu eine Online-Handlungshilfe entwickelt. Sie stellt den Prozess einer Gefährdungsbeurteilung dar, jeder einzelne Prozess-Schritt kann angeklickt werden und bietet weitere Tipps und Erläuterungen: von der Strategieentwicklung im Betriebs- bzw. Personalrat bis zur Wirksamkeitskontrolle. Besonderes Augenmerk gilt der Einbeziehung der Beschäftigten, etwa durch Betriebsversammlungen, Befragungen, Wandzeitungen und Intranet. www.verdi-gefährdungsbeurteilung.de

"Psychische Belastungen angehen - und dranbleiben!" ist das Thema einer Fachtagung für Betriebs- und Personalräte, die vom 22. bis 24. April in Berlin stattfindet. Veranstalter sind die Technologieberatungsstellen, die von Gewerkschaften unterstützt werden. Infos unter: www.tbs-gesundheit.de