Henrik Müller ist Redakteur von ver.di publik

Es gab Zeiten, da hatte das Wort Reform einen guten Klang: Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre realisierten Sozialdemokraten wie Willy Brandt als Bundeskanzler und Gustav Heinemann als Justizminister (und späterer Bundespräsident) mit ihren Reformen tatsächlich sozial- und gesellschaftspolitischen Fortschritt mit Vorteilen für fast alle Bürgerinnen und Bürger. Seit ihre sozialdemokratischen Nachfolger wie Gerhard "Basta" Schröder und Frank Walter Steinmeier in einer Super-Koalition mit Grünen, CDU, CSU und FDP die Republik mit ihren Gesetzen über "moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" überzogen haben, ist der Begriff Reform in Misskredit geraten. "Hartz IV" war der vierte der nach ihrem Erfinder, dem VW-Manager Peter Hartz, bezeichneten Eingriffe in das bis dahin einigermaßen bewährte deutsche Sozialrecht. Schröders Superminister Wolfgang Clement erhob diesen radikalsten Einschnitt in die Rechte von Millionen Menschen großspurig in den Stand einer "Mutter aller Reformen". Tatsächlich wurde Hartz IV das Unwort des letzten Jahrzehnts.

Behauptetes Ziel der Übung war die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Die Kurzformel lautete: fordern und fördern. Und die Bilanz nach zehn Jahren? Bekämpft wurde nicht die Arbeitslosigkeit, bekämpft wurden die Arbeitslosen. Gefordert wurde von ihnen alles, gefördert wurde die Rendite der Kapitaleigner - durch die Schaffung eines "der besten Niedriglohnsektoren" in Europa, wie Bundeskanzler Schröder schon 2005 beim Weltwirtschaftsforum in Davos prahlte. Dafür wurde der Genosse der Bosse auch prompt von interessierter Seite belobigt: "Schröder hat einen guten Job gemacht", sagte Jürgen Thumann, damals Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), und schob bei der guten Gelegenheit die Forderung nach Senkung der Körperschaftsteuer und der Abschaffung der Erbschaftssteuer für Unternehmen nach.

Was die Massenarbeitslosigkeit angeht, so ist sie in den zehn Jahren Hartz IV kaum nennenswert gesunken. Für den Januar 2015 werden von der Arbeitsbehörde eine Million Empfänger/innen von Arbeitslosengeld I gemeldet, 4,4 Millionen erhalten Hartz IV, macht 5,4 Millionen erwerbsfähige Menschen, die keinen Arbeitsplatz haben. Hinzu kommen rund 1,7 Millionen Empfänger/innen von Sozialgeld, der früheren Sozialhilfe, und eine große Grauzone. Die Differenz zu der aktuell verkündeten Zahl von angeblich "nur" 2,8 Millionen Arbeitslosen beruht schlicht und einfach auf statistischen Verschönerungsmaßnahmen. Die tatsächliche durchschnittliche "Verweildauer" in Hartz IV beträgt heutzutage 130 Wochen, zweieinhalb mal so lang wie vor zehn Jahren. Verbunden mit dem Hartz-IV-Bezug ist für Millionen Anspruchsberechtigte der ständige Kampf darum, die Leistungen überhaupt zu erhalten. Hinzu kommen die Drohung mit und die Verhängung von Bestrafungen, Demütigungen, Stigmatisierung, Ausgrenzung und Verachtung, wirtschaftliche und kulturelle Verarmung, vielfach psychische Verelendung, Vereinsamung und nicht zuletzt die Verschlechterung der Gesundheit und die Verkürzung der Lebenserwartung.

Und wenn Hartz IV die "Mutter aller Reformen" ist, dann wirkt sie gemeinsam mit ihren Schwestern Befristung von Arbeit, Leiharbeit, Werkvertragsarbeit, Teilzeitarbeit, Rentenkürzung, Reallohnverlust und anderen als herausragendes Instrument zur Disziplinierung und Einschüchterung derjenigen, die - noch - einen einigermaßen auskömmlichen Job haben. Wer riskiert schon im Betrieb eine Lippe, wenn ihm - nach einem Jahr Arbeitslosengeld I - die Enteignung seines Ersparten und/oder ein Leben am Existenzminimum drohen. Die Folgen: auf der einen Seite steigende Arbeitshetze im Betrieb, Sorgen um die Arbeitsplätze, Schwächung der betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung, schwindende Tarifbindung, sinkende Reallöhne. Und auf der anderen Seite: steigende Renditen, Machtkonzentration, Politikverdruss, immer gieriger werdende Kapitaleigner, immer mehr Millionäre und Milliardäre. Kurz: die immer tiefere Spaltung der Gesellschaft - hierzulande und überall dort, wohin das Modell Niedriglohnsektor hinexportiert wurde.

Willy Brandts Reformen brachten 1972 der SPD in Westdeutschland 17 Millionen Wählerstimmen. Das waren 41,4 Prozent aller Wahlberechtigten! Nach der "größten Sozialreform der Nachkriegsgeschichte" (Schröder) haben im vereinigten Deutschland bei der Bundestagswahl 2009 nicht einmal mehr zehn Millionen Wähler/innen sozialdemokratisch gewählt - gerade noch 16,1 Prozent. Warum an dieser Stelle dieser Focus auf die SPD? Weil Hartz IV ohne oder gegen sie nicht möglich wäre. Seine Abschaffung aber auch nicht.

BUCHBESPRECHUNG Seite 11

Bekämpft wurde nicht die Arbeitslosigkeit, bekämpft wurden die Arbeitslosen