Ausgabe 02/2015
Da sein, wo es brennt
Jessica Reifegerste, 40, Straßensozialarbeiterin, Jugendamt Hamburg
Die Orchidee ist meine Lieblingspflanze. Sie symbolisiert das, was meine Arbeit ausmacht. Wenn eine Klientin verzweifelt, zeige ich ihr die Blüten und sage: "Sie hat fast ein Jahr nicht geblüht. Ich dachte, sie sei tot. Aber sie kam zurück. Das schaffst du auch." Ich hole die Menschen ab, baue Vertrauen auf, motiviere sie. Mein Arbeitsplatz ist da, wo meine Klienten sind, Jugendliche und junge Erwachsene, die durch alle Netze gefallen sind. Bei einigen kommt vieles zusammen: Wohnungs- oder sogar Obdachlosigkeit, Drogen, Schulden ... Bei anderen geht es um scheinbare Selbstverständlichkeiten. Wir schreiben gemeinsam eine Bewerbung, ich zeige, wo man Briefmarken kauft und den Brief einsteckt. Ich bin wie die Feuerwehr: Wenn es brennt, bin ich die Erste am Einsatzort. Ich habe in vielen Bereichen Grundwissen und leiste die Erstversorgung. Dann begleite ich zu den Profis, zur Schuldner- oder Drogenberatung. Das passiert nicht auf Knopfdruck, wie von der Politik manchmal gewünscht, nach dem Motto: Da ist ein Problem, da schickt mal eine Straßensozialarbeiterin hin. Nein, zunächst gilt es, Vertrauen aufzubauen.
Niemand erzählt auf Kommando von seinen Problemen. Ich signalisiere dem Klienten, dass ich ihn akzeptiere, dass er keine Angst haben muss. Wir suchen gemeinsam nach Lösungen für die Probleme. Dabei gibt es keinen Königsweg. Rückschläge gehören dazu, trotzdem heißt es: dranbleiben. Auch wenn ich zum dritten Mal morgens um acht Uhr vergeblich vor dem Jobcenter gewartet habe, breche ich die Beziehung nicht ab, sondern suche mit dem Klienten nach einem neuen Weg. Manchmal hilft es, sich erst für elf Uhr zu verabreden.
Das gefällt mir an meiner Arbeit: Ich muss keine vorgegebenen Ergebnisse liefern, keine Deadline einhalten. Deshalb brauche ich keinen Druck aufzubauen, nicht zu drohen oder zu sanktionieren. Im Rahmen meiner Vorgaben kann ich frei arbeiten. Es geht allein um den Klienten und darum, mit ihm einen Weg zu finden, damit er irgendwann sein Leben selbst meistern kann, im besten Fall. Sehr wichtig ist die Netzwerkarbeit. Ich tausche mich regelmäßig fachlich mit Kollegen aus und brauche die gute Kooperation mit anderen Institutionen.
Ein wichtiger Termin ist das wöchentliche Arbeitslosenfrühstück am Montag. Alles andere ist Einzelfallarbeit und flexibel. Es kommt vor, dass ich um zehn Uhr abends einen Anruf von der Polizei erhalte, um Krisenintervention zu leisten. Das ist die Kehrseite der Flexibilität. Freizeitfreundlich sind die Arbeitszeiten nicht. Man muss gut auf sich aufpassen, damit man nicht verbrennt. Es ist wichtig, sich in der freien Zeit auszuruhen und abzuschalten, um diesem Job gewachsen zu sein. In letzter Zeit denke ich häufiger an die Zukunft. Was passiert, wenn die Zusatzversorgung wegfällt, wie jetzt von den Arbeitgebern gefordert? Ich verdiene nicht so üppig, um fürs Alter etwas auf die hohe Kante legen zu können. Aber es kann doch nicht sein, dass wir aufstockende Leistungen beantragen müssen, wenn wir in Rente gehen.
Protokoll: Michaela Ludwig,
Mitglied bei ver.di werden!
0800 / 837 34 33 oder www.darum-verdi.de