Detlef Hensche ist Jurist und war bis 2001 der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Medien

Ungeachtet aller Kritik wird die Große Koalition das Gesetz über die betriebliche Tarifeinheit durchziehen. Keine der mit dem Gesetz verbundenen Hoffnungen wird aufgehen. Die Jagd nach betrieblichen Mehrheiten wird die Konkurrenz unter den Gewerkschaften verschärfen; nicht nur den Spartenorganisationen, auch den DGB-Gewerkschaften droht Tarif-Entmündigung. So dient man weder der Tarifautonomie noch dem Betriebsfrieden.

Gegen die verfassungsrechtlichen Einwände beschwört die Arbeitsministerin einen vermeintlichen Ordnungsauftrag der Tarifautonomie und bringt ihn gegen das Freiheitsrecht in Stellung. Im Klartext: Die Koalitionsfreiheit soll dort enden, wo sie nicht die von der Politik erwünschten Ergebnisse zeitigt. Wenn eine Handvoll aufmüpfiger Berufsverbände durch eigene Tarifverträge die Geschäfte der Arbeitgeber stört, müsse der Gesetzgeber, so die Ministerin, ihnen das Handwerk legen. Damit ist der Boden der Verfassung verlassen. Auch wenn die Sozialdemokratin Andrea Nahles es vergessen haben sollte: Das Recht auf gewerkschaftlichen Zusammenschluss und kollektive Gegenwehr haben die abhängig Beschäftigten und ihre Gewerkschaften - ehemals Arm in Arm mit der SPD - in jahrzehntelangen Kämpfen gegen Unternehmer und Obrigkeit als Freiheitsrecht durchgesetzt. Es umschließt die dreifache Freiheit zur gewerkschaftlichen Mitgliedschaft und Betätigung, zur unabdingbaren kollektivvertraglichen Festlegung der eigenen Arbeitsbedingungen bei abhängiger Beschäftigung sowie zur gemeinsamen Arbeitseinstellung, also zum Streik, um die Chance zu haben, gleichberechtigt verhandeln zu können.

Diese umfassend garantierte Freiheit hat ihren Grund in sich selbst und muss sich nicht etwa dadurch rechtfertigen, dass sie bestimmten Ordnungs- und Harmonievorstellungen gerecht wird. Die Koalitionsfreiheit ist nur einem Zweck verpflichtet: der "Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen", wie es in Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes heißt. Doch wie das geschieht, mit welchen Zielen und Inhalten die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern sind, das entscheiden die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften autonom. Die einzige Ordnung, der das Koalitionsgrundrecht dient, ist die freie, eigenverantwortliche Gestaltung der sozialen Verhältnisse. Die Koalitionsfreiheit duldet daher keine politische Bevormundung oder richterliche Zensur.

Um die Schwere des geplanten Grundrechtseingriffs zu ermessen, sollte man den Freiheitskern des verfassungs- und völkerrechtlich verbürgten Menschenrechts auf Gewerkschaftsbildung und -betätigung im Auge behalten. So entzieht man auch dem Geschwätz von "Organisationsegoismus" und "gewerkschaftlichen Machtspielen" den Boden. Wenn etwa dieser Tage die Mitglieder des Berliner Staatsballetts streiken, um mit ver.di einen Haustarifvertrag durchzusetzen, betreiben sie keine finsteren Machtspiele, wie der Intendant unterstellt, sondern nehmen sich die in der Verfassung verbriefte Freiheit, ihre Arbeit nach eigenen Tarifnormen zu gestalten, um sich nicht den fremden Tarifvertrag einer konkurrierenden Gewerkschaft überstülpen lassen zu müssen.

Die individuelle Koalitionsfreiheit schützt auch das Recht, einer konkurrierenden Gewerkschaft beizutreten und sich dort zu engagieren. Das gilt ohne Abstriche auch für Berufsverbände, selbst wenn sie nach modernem industriegewerkschaftlichem Verständnis eigentlich der Vergangenheit angehören. Das Grundrecht ist unteilbar. Die Verfassung lässt nur einen Weg offen, um die Probleme gewerkschaftlicher und tarifpolitischer Konkurrenz zu lösen: die selbst verantwortete Koordinierung unter den Gewerkschaften. Staatlich erzwungene Einheit verbietet dagegen Art. 9 Abs. 3 GG. Einer Gewerkschaft anzugehören, deren Tarifverträge nicht gelten, ist sinnlos. Desgleichen geht die Streikfreiheit ins Leere, wenn die Mitglieder damit rechnen müssen, dass ihr Tarifvertrag nicht anwendbar sein wird. Hauptzweck der Gewerkschaft bleibt der kollektivvertragliche Schutz. Zwar bietet der Gesetzentwurf der Minderheitsgewerkschaft das Recht, den Mehrheitstarifvertrag durch Nachzeichnung zu übernehmen. Nur ist der fremde Tarifvertrag gerade nicht der, den die Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft gefordert und für den sie sich eingesetzt haben. Das Gnadenbrot eines fremdgesetzten Tarifvertrages anzunehmen, ist das Gegenteil tarifautonomer Gestaltung der eigenen Arbeit.

Der Regierungsentwurf eines Tarifeinheitsgesetzes verstößt mithin gegen die Verfassung; das Gesetz wird keinen Bestand haben. Umso mehr bleibt es ein Rätsel, welcher Teufel einige Gewerkschaftsvorstände geritten hat, dem Vorhaben zuzustimmen. Der Demontage der eigenen verfassungsrechtlichen Existenz- und Arbeitsgrundlagen die Hand zu reichen, diese Narretei begreife, wer will.

Bericht Seite 11

Der Regierungsentwurf eines Tarifeinheitsgesetzes verstößt gegen die Verfassung. Das Gesetz wird keinen Bestand haben.