Von Klaus Busch

Die europäische Integration befindet sich aktuell in der schwierigsten Phase seit Inkrafttreten der Römischen Verträge. Die EU ist trotz verschiedener Anläufe nicht in der Lage, die Strukturmängel der Maastrichter Wirtschafts- und Währungsunion zu heilen, und aufgrund der Flüchtlingskrise steht das Schengen-System kurz vor dem Zusammenbruch, weil sich die Mitgliedsstaaten nicht auf eine Verteilung der Flüchtlinge verständigen können.

Der Versuch, die Wirtschafts- und Währungsunion durch Reformen zu vertiefen und damit die Defizite der Maastrichter Konstruktion zu überwinden, ist gescheitert - politisch, ökonomisch und sozial. Die EU ist damit in einem integrationspolitischen Dilemma gefangen. Aus ökonomischen und sozialen Gründen wäre es für die EU-Staaten kein Problem, jährlich ein bis zwei Millionen Menschen zu integrieren, solange sich die Staaten auf einen gemeinsamen und fairen Verteilungsschlüssel verständigen könnten. Außer Schweden, Deutschland und Österreich sind alle anderen Staaten aus unterschiedlichen Gründen nicht bereit, Flüchtlinge in nennenswerter Zahl aufzunehmen. Angesichts dieser Fakten muss ein eklatantes Scheitern der Regierung Merkel festgestellt werden. Seit Monaten verkündet sie ein dreifaches Mantra: Die Ursachen der Flucht müssen bekämpft werden, die EU muss sich solidarisch auf Verteilungsquoten verständigen, die Zahl der Flüchtlinge muss 2016 zurückgehen.

Die Tatsachen sehen anders aus: Weder lassen sich die Ursachen der Flüchtlingskrise in absehbarer Zeit beseitigen, noch kann sich die EU auf gemeinsame Quoten verständigen, noch wird die Zahl der Flüchtlinge, die 2016 vor allem nach Deutschland drängen, geringer werden. Auch ein Abkommen mit der Türkei wird keine Lösung bringen, denn die türkische Ägäis-Küste ist kaum zu kontrollieren, die Aufnahme von Flüchtlingskontingenten aus der Türkei wird am Unwillen der EU-Staaten scheitern, und Erdogan steht angesichts des Krieges mit den Kurden so stark unter Druck, dass die Türkei die massenhafte Aufnahme weiterer Flüchtlinge ablehnen wird.

Die EU ist damit gefesselt. Im Unterschied zu früheren Integrationskrisen ist nicht erkennbar, wie sie sich aus dieser schwerwiegenderen Lage befreien kann. Der EU gelingt es nicht mehr, Politikfelder wie die Fiskalpolitik oder Flüchtlingspolitik, welche Kernbereiche der nationalen Souveränität und Identität betreffen, auf die europäische Ebene zu transferieren. An starken nationalistischen Grundtönen in den Mitgliedsstaaten scheitern alle Bemühungen, die Integration zu vertiefen. Die Legitimation der europäischen Integration befindet sich in einer Abwärtsspirale.

Daraus folgt, dass die deutsche Regierung ihren Kurs, auf eine europäische Lösung zu hoffen und auf jeden Fall zur Verhinderung negativer ökonomischer Folgen den Schengen-Raum zu verteidigen, nicht mehr lange durchhalten kann. Die Gefahr einer massiven politischen und ökonomischen Integrationskrise war in der Geschichte Europas nie größer als heute. Das Jahr 2016 wird zum Schicksalsjahr der EU.

Prof. em. Klaus Busch, Mitglied im ver.di-Europa-Beirat, ehem. Uni Osnabrück