Über mehr als zwei Kilometer hat sich der Zug der Demonstranten am 15. März in Budapest erstreckt. Es ist der Nationalfeiertag, an dem in Ungarn an die Revolution von 1848 erinnert wird. Damals gingen Menschen auf die Straße, um demokratische Freiheitsrechte zu fordern und gegen die Herrschaft der Habsburger Monarchie zu protestieren. "Viele von ihnen waren Lehrer, Ärzte, Hebammen und Kutschenfahrer", sagt László Mendrey seinen Zuhörern, während sie durch die Innenstadt zum Parlament laufen. Er ist Vorsitzender der Demokratischen Lehrkräftegewerkschaft (PDSZ) und einer der Hauptorganisatoren der Proteste, die im Land immer weitere Kreise ziehen. "Heute wie damals geht es um Freiheit und Demokratie", sagt Mendrey.

Kündigungsschutz gelockert, Streiks erschwert

Ungarns Lehrkräfte haben - wie alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst - viele Gründe, unzufrieden zu sein. Zu den Problemen der chronischen Unterfinanzierung und der prekären Gehälter überall im öffentlichen Dienst kommt durch die jüngsten Reformen der Regierung noch die beispiellose Zentralisierung des Schulwesens, die zu einer Vervielfachung des bürokratischen Aufwands führt. Die Zentralbehörde KLIK, die alle Schulen im Land verwaltet, zahlt die Rechnungen für Gas und Strom manchmal zu spät oder gar nicht; vielerorts sieht sich das Schulpersonal gezwungen, Kreide und Stifte aus eigener Tasche zu bezahlen.

Doch das wichtigste Problem bleiben die Kürzungen der Arbeitnehmerrechte. Die Regierung von Viktor Orbán verabschiedete bereits 2012 ein neues Arbeitsgesetzbuch, das den Spielraum der Gewerkschaften erheblich einschränkt, den Kündigungsschutz lockert und die Ausübung des Streikrechts deutlich erschwert oder - wie im öffentlichen Dienst - sogar praktisch unmöglich macht. Damals protestierten Arbeitnehmer/innen aus allen Branchen monatelang gegen die neuen Bestimmungen, doch die Regierung argumentierte, die Maßnahmen seien angesichts der Wirtschaftskrise unausweichlich. Kurz darauf zwang ein neues Bildungsgesetz die Lehrkräfte, einer neuen, einheitlichen Interessenorganisation beizutreten, die sie zukünftig bei den Verhandlungen mit der Arbeitgeberbehörde KLIK "vertreten" soll. Wie erwartet, wurde die Führungsriege dieser offiziellen Interessenvertretung mit Anhängern der Regierungspartei FIDESZ besetzt, die seitdem die Rolle bequemer Gesprächspartner auf jedem Treffen mit den ebenso FIDESZ-nahen Ministerial- beamten spielen.

Jede Woche eine Stunde mehr

"Das Manöver hat die unabhängigen Gewerkschaften geschwächt", sagt László Mendrey. "Viele Kolleginnen und Kollegen haben Angst, weil die Reform die Zahl der Kontrollinstanzen erhöht hat. Man wird permanent überwacht, steht ständig unter Rechtfertigungsdruck. Beim kleinsten Konflikt drohen ernstzunehmende Sanktionen oder der Ausschluss aus der offiziellen Interessenvertretung und damit der Jobverlust."

An der Demonstration Mitte März beteiligten sich vor dem Parlament Zehntausende Beschäftigte vieler Branchen, darunter auch Sozialarbeiterinnen und Kulturschaffende. Die Probleme seien überall im Dienstleistungssektor und im öffentlichen Dienst ähnlich, erklärten fast alle Redner. Doch was tun gegen Zentralisierung, Überwachung und Einschüchterung, wenn Streiks per Gesetz nicht mehr möglich sind? Die Vertreter der Lehrkräfte haben eine Strategie vorgeschlagen, die sich am Rande der in Ungarn geltenden Gesetze bewegt: Sie legten bereits Ende März für eine Stunde die Arbeit nieder, "als Akt zivilen Ungehorsams". Sie planen nun, diese Aktion jede Woche um eine Stunde zu verlängern, wenn die Regierung die Forderungen der unabhängigen Gewerkschaften weiterhin nicht ernst nimmt. Ob diese Protestform erfolgreich sein kann, hängt vor allem davon ab, wie viele Ungar/innen die Aktion aktiv unterstützen.

In den letzten sechs Jahren hat Viktor Orbán nur ein einziges Mal einen Rückzieher auf Druck von Protesten gemacht: Als er eine Internetsteuer einführen wollte, gingen mehr als hunderttausend Menschen auf die Straße. "Mit klassischer Gewerkschaftsarbeit hat unsere Strategie zwar wenig zu tun", sagt Mendrey, "aber ebenso wenig hat das Arbeitsrecht hierzulande noch etwas mit europäischen Normen und Prinzipien zu tun."

Silviu Mihai