Ausgabe 05/2016
"Wir wollen mehr Zeitsouveränität"
ver.di ist Mitglied der Fokusgruppe "Orts- und zeitflexibles Arbeiten in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, die an Handlungsempfehlungen für die Arbeitswelt gearbeitet hat. Sie hat sich mit Gestaltungsfragen bei orts- und zeitflexiblem Arbeiten befasst. Die technischen Entwicklungen von Computer und Smartphone machen es möglich, dass immer mehr Menschen von unterwegs oder von zu Hause aus arbeiten und nicht im Betrieb. Sie arbeiten meist nicht nur orts-, sondern auch zeitflexibel, außerhalb der betrieblichen Arbeits- zeiten. Für manche erfüllt sich damit die Hoffnung auf selbstbestimmteres Arbeiten, für andere ist es der erste Schritt zur Selbstausbeutung.
ver.di publik - Was war der aktuelle Anlass für die Entwicklung der Handlungsempfehlungen?
Karl-Heinz Brandl - Ständige mobile Verfügbarkeit und weltweite Vernetzung führen zu einer wachsenden Beschleunigung der Prozesse. Arbeit und Privatleben vermischen sich immer mehr. Aus der erhofften Freiheit, selbst zu bestimmen, wann und wo wir arbeiten, entsteht immer häufiger der ungesunde Zwang, immer und überall arbeiten zu müssen. Die Veränderungen durch die Digitalisierung haben die Politik veranlasst, Handlungsempfehlungen gemeinsam und im Austausch mit Arbeitgeberverbänden, Betriebsräten, Wissenschaftlern und Gewerkschaften zu entwickeln.
ver.di publik - Wie stellt sich ver.di orts- und zeitflexibles Arbeiten vor, das man als gute Arbeit bezeichnen kann?
Brandl - Wir wollen mehr Zeitsouveränität für die Beschäftigten, ohne dass die Arbeitszeiten länger und die Ruhezeiten kürzer werden, weil jemand von zu Hause aus oder unterwegs arbeitet. Das geltende Arbeitszeitrecht gibt hier genügend Spielraum. Deshalb fordern wir, dass alle relevanten Normen und ergonomischen Standards des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, die für ortsfeste Arbeitsplätze gelten, auch bei ortsflexibler Arbeit angewandt werden. Zudem ist es erforderlich, Arbeitsschutzverordnungen an die höheren Belastungen digitaler und mobiler Arbeit anzupassen. Und es sind Qualitätsstandards bei der Soft- und Hardware-Ergonomie notwendig, auch bei mobiler Arbeit.
ver.di publik - Wie weit sind diese Forderungen von den Vorstellungen der Arbeitgeberverbände entfernt?
Brandl - Sie wollen Flexibilität in jeder Hinsicht für die Unternehmen, aber nicht zum Vorteil der Beschäftigten. Sämtliche Gestaltungs- oder Regulierungsvorschläge von uns haben sie abgelehnt. Sie wollen die bestehenden Arbeits-, Sozial- und Mitbestimmungsrechte aufweichen. Unter anderem wollen sie die Regelungen im Arbeitszeitgesetz zur täglichen Arbeitszeit zugunsten einer wöchentlichen und insgesamt höheren Höchstarbeitszeit aufheben. Und sie wollen Einschnitte bei den Ruhezeiten. Das aber würde per Gesetz einer Rundumverfügbarkeit die Türen öffnen.
ver.di publik - Angesichts so weit auseinanderliegender Vorstellungen erscheint es kaum vorstellbar, Handlungsempfehlungen gemeinsam zu entwickeln. Worauf habt ihr euch geeinigt?
Brandl - Das kleinste gemeinsame Ergebnis ist die Empfehlung, überall dort, wo es für sinnvoll erachtet wird, betriebliche Praxislabore einzurichten, in deren Rahmen ergebnisoffen neue Gestaltungsansätze entwickelt und konkrete Veränderungen im direkten Betriebsablauf erprobt werden können. Diese Praxislabore muss man sich wie Pilotprojekte in Betrieben vorstellen, die wissenschaftlich begleitet werden. Allerdings gibt es auch hier einen Streitpunkt. Die Arbeitgeber wollen bei der Erprobung von gesetz- lichen Regelungen abweichen können. Wir wünschen uns stattdessen einen sozialpartnerschaftlichen Ansatz, auch um die Akzeptanz bei den Beschäftigten zu sichern. Grundsätzlich sollten die Praxislabore nur im Einvernehmen mit den Betriebsparteien und den Tarifvertragsparteien durchgeführt werden.
ver.di publik - Wo müssen bereits bestehende Gesetze ergänzt werden?
Brandl - Wir brauchen auch ein Recht auf Nichterreichbarkeit. Der DGB-Index Gute Arbeit zeigt, dass ständige Erreichbarkeit für mehr als ein Viertel der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor die Arbeitsbedingungen prägt und darüber hinaus fast jeder Fünfte unentgeltlich in der Freizeit Aufgaben für seinen Betrieb oder die Behörde erledigt. Deshalb sollte der gesetzliche Rahmen zum Schutz der Beschäftigten weiterentwickelt werden.
ver.di publik - Was empfiehlst du Beschäftigten, die sich zu flexiblem Arbeiten entschließen?
Brandl - Sie sollten darauf achten, dass die gesetzlichen Vorschriften in Sachen Arbeitsschutz, Arbeitszeit und Datenschutz eingehalten werden. ver.di-Tarifverträge, Betriebs- und Dienstvereinbarungen geben zusätzliche Sicherheit.
Interview: Marion Lühring