In der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di fließen große Traditionen sozialer Interessenvertretung zusammen. Das ist Schatz und Last zugleich. Wie Edelsteine funkeln viele Konflikte, die die fünf Gründungsgewerkschaften in ihren Branchen über Jahrzehnte hinweg durchgefochten haben. Ein solcher Erfahrungsschatz hat Zusammengehörigkeit und Identität gestiftet. Sich aufzulösen und in eine neue Gewerkschaft zu integrieren, mögen vereinsrechtlich zwei Federstriche sein. Als organisationspolitischer Prozess verlangt es allen Beteiligten eine Menge ab. Da können alte Edelsteine den Rucksack auch verdammt schwer machen.

ver.di hat die fünf verschiedenen Historien von Anfang an als ihre eigene Vergangenheit gesehen und gepflegt. Frank Bsirske, Henrik Müller und Frank Werneke haben jetzt als Herausgeber ein besonderes Juwel ins Rampenlicht gestellt. Unter dem Titel Vordenker und Strategen werden "die Gewerkschaftspresse im grafischen Gewerbe und ihre Redakteure seit 1863" auf 480 Seiten in einem sorgfältig editierten Geschichts- und Lesebuch vorgestellt. Rüdiger Zimmermann, lange Jahre Chefbibliothekar der Friedrich-Ebert-Stiftung, hat 22 Biographien erarbeitet und sie in den gewerkschafts- wie gesellschaftspolitischen Zusammenhängen der jeweiligen Zeit verankert.

Heute setzen sich die Gewerkschaften mit tiefen technischen und ökonomischen Umbrüchen auseinander. Die damalige Industriegewerkschaft Druck und Papier und spätere IG Medien bekamen das als erste zu spüren. Und trotzdem ist nach der Lektüre der Texte der erste Gedanke: Es gibt keine wichtige Frage, kein hartnäckiges Problem, keine Kontroverse, die nicht gestern schon die Gemüter erhitzt hätten. Für diesen Eindruck genügt schon das Kapitel über Richard Härtel (1838 - 1903), den "eigentlichen Verbandsgründer": Das Spannungsfeld, wie es dem Organisationsprinzip Gewerkschaft innewohnt, zwischen gesellschaftspolitischer Utopie, sozial- und tarifpolitischen Zielen und pragmatischen Zwängen des Hier und Jetzt hatte Härtel ein Berufsleben lang persönlich zu gestalten und auszuhalten.

Anschluss zu wahren an die aktuellen Aufgaben, das war wohl auch der strategische Plan dieser ebenso akribischen wie in souveränen langen Strichen präsentierten Geschichtsschreibung. "Die Erinnerung kann dem Vordenken helfen, mit dieser Idee sind wir angetreten", bestätigt Mitherausgeber Henrik Müller. Er scheint den klassischen Satz aus der Organisationsberatung zu kennen, der auf ver.di umgemünzt lautet: Wenn ver.di wüsste, was ver.di weiß.

Rüdiger Zimmermann: Vordenker und Strategen. Die Gewerkschaftspresse im grafischen Gewerbe und ihre Redakteure seit 1863. Herausgegeben von Frank Bsirske, Henrik Müller und Frank Werneke. Berlin, Metropol Verlag 2016. 480 Seiten; 29, 90 €