Alle Jahre wieder wird viel öffentliches Gewese um das angebliche "Wort des Jahres" gemacht. Diese Ehre lässt eine gewisse "Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS)" seit 1971 "Wörtern und Wendungen" angedeihen, die - so definiert es der laut Wikipedia hauptsächlich aus Steuergeldern finanzierte Verein - "den öffentlichen Diskurs des Jahres wesentlich geprägt und das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben sprachlich in besonderer Weise begleitet haben". Dieses Jahr hat sich die von Germanistik-Wissenschaftlern dominierte Jury den Begriff "postfaktisch" ausgeguckt, ein Wortkonstrukt, das zuvor allenfalls ein Schattendasein geführt hatte, nach seiner Ertüchtigung durch die Gesellschaft für deutsche Sprache allerdings prompt zum vielseitig interpretierbaren, politischen Kampfbegriff avancierte. So ganz genau weiß aber niemand, was damit gemeint ist. Man kann nur spekulieren: Die Wortschöpfer wollen wohl zum Ausdruck bringen, dass in Politik, Gesellschaft und Medien bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nur "Fakten, Fakten, Fakten" gezählt hätten, dass aber danach (lateinisch: "post"), also im Hier und Jetzt eine Zeit gekommen sei, in der Fakten, also Tatsachen, also Wahrheiten keine Rolle mehr spielten. Ein Begriff, der so umständlich erklärt werden muss, soll also "Wort des Jahres" sein? Selbst die GfdS-Jury selber kann ihre Wortwahl nicht plausibel begründen, jedenfalls nicht mit Fakten: "Immer größere Bevölkerungsschichten", so die gelehrten Herrschaften etwas nebulös, aber ausladend arrogant, seien "in ihrem Widerwillen gegen ‚die da oben‘ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren." So versuchen die staatstragenden Germanistik-Professoren, der gemeinen Bevölkerung das Wort im Munde umzudrehen. Im wirklichen Leben sind nämlich immer mehr Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in ihrer Enttäuschung von "denen da oben" nicht mehr bereit, deren offensichtliche Lügen en masse zu akzeptieren, und wollen, dass wieder mehr Fakten den "öffentlichen Diskurs" prägen - als da beispielsweise wären: wachsende soziale Ungleichheit, Wohnungsnot, prekäre Arbeit, Niedriglöhne, Bildungsnotstand, Massenarbeitslosigkeit, Kinderarmut, Altersarmut. Nein, vergesst das Wort "postfaktisch"! Es taugt nicht einmal als "Unwort des Jahres". Henrik Müller