Fast eine halbe Million Menschen haben im vergangenen Jahr die Abschlussprüfung an einer deutschen Hochschule geschafft. Offiziell sind sie damit auf die Berufswelt vorbereitet. Tatsächlich aber haben nur die wenigsten von ihnen zutreffende Vorstellungen, welche Regeln in der Arbeitswelt gelten. So weiß ein Großteil der frischgebackenen Akademiker/innen nicht, welche Aufgabe Betriebs- und Personalräte haben, was in Tarif- und Arbeitsverträgen steht und welche Rolle Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände in Deutschland spielen. Auch von ihrem Recht auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben viele noch nichts gehört - und das, obwohl der überwiegende Teil von ihnen neben dem Studium jobbt.

"Wenn ich als abhängig Beschäftigte oder Selbstständige keine systematischen Kenntnisse von der Verfasstheit der Arbeitswelt habe, werde ich keine richtigen Handlungsoptionen entwickeln können, sondern mich eher durchwursteln müssen", sagt die ver.di-Fachfrau für Hochschulpolitik Renate Singvogel. Um diesen weißen Fleck in der Bildungslandschaft zu füllen, hat deshalb eine ver.di-Arbeitsgruppe in einem zweijährigen Prozess das Modul "Arbeitsbeziehungen in Deutschland - Kompetenzen für die Arbeitswelt" entwickelt. Dank wissenschaftlicher Begleitung kann es nun in den Lehralltag in Hochschulen integriert werden und bringt den Teilnehmenden drei bis fünf sogenannte Credit Points, Punkte, die Studierende für die Zulassung zum Examen sammeln müssen.

Tarifverhandlung als Rollenspiel

Nach einer Pilotphase in Eberswalde und Bremen gibt es ein entsprechendes Kursangebot inzwischen auch an einem halben Dutzend weiterer Hochschulen. Mancherorts steht das Modul Studierenden aller Fachbereiche offen, anderswo ist es fachspezifisch zugeschnitten oder wird in ein bestehendes Seminar integriert. André Holtrup, der das Seminar in Bremen unterrichtet, veranstaltet nicht nur Rollenspiele, um das Thema Tarifverhandlungen erfahrbar zu machen. Er geht mit den Studierenden auch ins Arbeitsgericht und lädt Betriebsräte und Arbeitgebervertreter in den Unterricht ein. "Die Studierenden haben tatsächlich sehr wenig Vorkenntnisse und finden solche Begegnungen deshalb besonders interessant", berichtete er auf einem Fachkongress, der Anfang November in der ver.di-Bundesverwaltung stattfand. Auch die Zunahme prekärer Arbeitsbedingungen ist Thema des Kurses.

Um das Angebot weiter zu verbreiten, gibt es seit November die Online-Plattform www.kofa.verdi.de. Sie ist offen für alle Interessierten, richtet sich aber vor allem an die Lehrenden sowie diejenigen, die für die Organisation der Hochschullehre verantwortlich sind. Dort finden sich nicht nur die Erläuterung der Lernziele, des Modulaufbaus und ein Ankündigungstext. Auch Evaluationsberichte aus den Pionierhochschulen, Literaturhinweise sowie Hintergrundinformationen zu Arbeitsfeldern wie Gesundheits- und Sozialwesen oder zu Informations- und Telekommunikation sind dort abgelegt.

Der personelle Anker

Demnächst soll zusätzlich ein geschlossener Raum mit Kontakten zu potenziellen Dozentinnen und Dozenten eingestellt werden. "Es soll eine Plattform des Gebens und Nehmens werden", sagt Renate Singvogel. Die Leitenden von Lehrveranstaltungen können alles nutzen - und sollten die von ihnen selbst entwickelten Lehrinhalte anschließend möglichst ebenfalls zur Verfügung stellen. Um das Modul im Lehrplan einer Hochschule zu verankern, bedarf es eines Kümmerers vor Ort, zeigen bisherige Erfahrungen. "Dieser Mensch sollte sich mit den Strukturen seiner Hochschule gut auskennen und auch über einige Kontakte verfügen", riet Hans-Jürgen Immerthal.

Er ist an der Jade Hochschule Wilhelmshaven für die Eingangsprüfung von Studierenden ohne Abitur zuständig und hat an seiner Hochschule die Rolle des "personellen Ankers" für das Modul übernommen. Als erstes sprach er die für die Lehre zuständige Vizepräsidentin an und überreichte ihr das Konzept; auch mehreren Dekanen stellte er das Lehrangebot vor. Später half er bei der Antragsbürokratie und sorgte dafür, dass bei der Platzierung des Blockseminars keine Pflichtkurse parallel liefen, die Interessierte von der Teilnahme abgehalten hätten. Kontakte zu Firmen, die für einen Seminarbesuch interessant waren, stellte Immerthal ebenfalls her.

Beim Fachkongress in Berlin fanden sich mehrere Unterstützende, die nun versuchen wollen, das Modul auch an ihren Hochschulen einzuführen. Weitere Interessierte sind willkommen und können sich per E-Mail wenden an: renate.singvogel@verdi.de