Mit ihrem Kandidaten punktet die SPD in den Umfragen

Henrik Müller war bis 2015 Redakteur der ver.di publik

Wer hätte Anfang des Jahres geglaubt, dass die gute alte Tante SPD aus ihrem absoluten Umfragetief innerhalb weniger Wochen um gut 50 Prozent in der Wählergunst nach oben schießen und mit der Union bei der "Sonntagsfrage" gleichziehen könnte? Wer eine solche Prognose gewagt hätte, wäre für politisch unzurechnungsfähig erklärt worden. Dennoch ist es passiert. Und zwar deshalb, weil die Sozialdemokratische Partei einen Politiker nach vorne gestellt hat, der eine Frage in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses schiebt, die die Mehrheit der Menschen im Innersten noch mehr umtreibt als alle anderen Aufreger-Themen der letzten Monate: die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit.

Die SPD könne Wähler/innen nur zurückgewinnen, "wenn sie eingesteht, dass die Agenda 2010 in Teilen ein Irrweg war. Sie hat zu Ungerechtigkeit und Unsicherheit geführt", schrieb Gesine Schwan in der Wochenzeitung Die Zeit kurz nach der Ausrufung des langjährigen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten. Die Politikwissenschaftlerin und gescheiterte SPD-Bewerberin für das Amt der Bundespräsidentin ist linkspolitischer Neigungen bis dahin eher unverdächtig, aber klug genug, die Zeichen der Zeit treffend zu analysieren.

In der Tat scheinen Millionen darauf gewartet, sich danach gesehnt zu haben, dass ein - wenn auch bisher nicht unmittelbar an der Bundespolitik beteiligter - führender Politiker der Sozialdemokraten Fehler der Partei eingesteht: "Fehler zu machen, das ist nicht ehrenrührig. Wichtig ist, dass diese Fehler korrigiert werden, wenn sie erkannt worden sind. Wir haben sie erkannt", erklärte Schulz und löste damit eine regelrechte Wechselstimmung im Lande aus, wie Parteienforscher das Phänomen nennen. Die Umfragewerte für die SPD schossen nach oben und halten sich dort seitdem, 10.000 Menschen traten innerhalb weniger Wochen der Partei bei.

Mit seinem Politikansatz und seinem Auftreten hat der neue Sympathieträger der SPD allerdings auch eine schwere Bürde und hohe Verantwortung übernommen. Wenn es tatsächlich so kommen sollte und die Sozialdemokraten - wider alles Erwarten der letzten Jahre - nach der Bundestagswahl eine Regierungskoalition beispielsweise aus SPD, Linken und Grünen anführen können, dann muss Schulz liefern. Wenn es dann aber noch einmal passiert, dass ein Sozialdemokrat - von einer Welle der politischen Euphorie getragen - Regierungschef wird und anschließend das Gegenteil dessen tut, was die meisten von ihm erwartet haben, dann wird die traditionsreiche Partei in die Bedeutungslosigkeit versinken - mit unabsehbaren Begleiterscheinungen und gesellschaftspolitischen Folgen.

Aber die Bedenkentragenden und Schulz’ Gegner/innen aus Wirtschaft, Medien, Politik und auch der eigenen Partei sind längst dabei, sich gegen einen solchen Politikwechsel hin zu einer signifikant veränderten SPD-Programmatik zu formieren. Eilfertig betonen etliche Sozialdemokrat/innen, die Agenda 2010 stehe keineswegs zur Disposition, Schulz wolle allenfalls ein paar Korrekturen an dieser oder jener Stelle. Da wird sich der neue Hoffnungsträger der SPD noch erheblich klarer positionieren müssen. Im Fernsehen pauschal und durch die Bank kräftige Lohnerhöhungen zu fordern, ist das eine. Wer es ernst damit meint, muss aber auch sagen, wie er den Gewerkschaften den Rücken stärken will, denn sie sind es ja, die das durchsetzen müssen. Auch mit einer Umbenennung der Arbeitsverwaltung in "Bundesagentur für Arbeit und Qualifikation" wird es nicht getan sein. Dass Schulz den "täglich hart arbeitenden Menschen im Lande" wieder mehr Beachtung schenken will, ist gewiss begrüßenswert. Aber auch diejenigen, die nicht so hart arbeiten können oder gar nicht arbeiten dürfen, haben einen Anspruch auf politische Zuwendung.

Im Grunde gehört die komplette Armutsmaschine der Agenda 2010 auf den Prüfstand - von den Rentenkürzungs-Programmen über das menschenunwürdige Hartz-IV-System und seine disziplinierenden Drohwirkungen auf Millionen abhängig Beschäftige, über das kommerzialisierte Gesundheitswesen bis zu den Fördergesetzen für den riesigen Niedriglohnsektor, der in den letzten Jahren zielgerichtet geschaffen worden ist. In all diesen Fragen - und natürlich auf einer Reihe von anderen Politikfeldern - wird der neue Spitzenkandidat der Sozialdemokraten Farbe bekennen, Bundesgenoss/innen gewinnen und sich auf einen dauerhaften harten Gegenwind einstellen müssen. Wenn er das wirklich will und wenn er das durchsteht, hat er reelle Chancen, einen grundlegenden Politikwechsel durchzusetzen.

Im Grunde gehört die komplette Armutsmaschine der Agenda 2010 auf den Prüfstand