Ausgabe 03/2017
Den Betroffenen eine Stimme geben
Den Betroffenen Eine Stimme geben
Zum Aktionsbündnis "NSU-Komplex auflösen" haben sich im Jahr 2014 bundesweit Initiativen zusammengeschlossen, die solidarisch mit den Opfern des NSU und deren Angehörigen sind. Im Schauspiel Köln veranstalten sie vom 17. bis 21. Mai ein Tribunal
Gezielte Zerstörung: Nach dem Anschlag im Juni 2004 in Köln
"Wir wurden als Täter dargestellt. Wir wurden diskriminiert." Die junge Frau mit den runden Wangen spricht direkt in die Kamera. Sie trägt ein Kopftuch. Bis 2004, sagt sie weiter, habe sie sich nicht als Ausländerin gesehen.
Dann erscheint ein Mann auf der Leinwand. "Es sind die Angehörigen, die immer noch mit offenen Fragen kämpfen", stellt er ruhig fest. Ihm sei es wichtig, dass die Menschen erfahren, "wie es uns ergangen ist. Durch diese Hetze. Es ist wichtig, dass die Menschen erfahren, dass mein Bruder ein wundervoller Mensch war."
Lückenlose Aufklärung
Die kurzen Videos liefen zum Auftakt des Tribunals "NSU-Komplex auflösen" am 16. März im Berliner Maxim-Gorki-Theater. Angehörige von Opfern, Betroffene und andere Aktive aus dem Aktionsbündnis forderten die längst fällige lückenlose Aufklärung des NSU-Komplexes, der Morde an zehn Menschen, der drei Bombenanschläge mit vielen Verletzten und der 27 Raubüberfälle. Unter dem Motto "J'accuse - Ich klage an" wurde an diesem Morgen das Tribunal in Köln-Mühlheim vorbereitet, weitere Veranstaltungen und Aktionen werden im Laufe des Jahres folgen.
Denn die rassistische Terrorserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), die 1998 ihren Anfang nahm, ist noch immer nicht aufgeklärt, trotz der Einrichtung von zwölf Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen durch Landtage und Bundestag in den vergangenen fünf Jahren. Auch wenn der Strafprozess vor dem Oberlandesgericht München gegen einige wenige Beteiligte des NSU nach mehr als 300 Sitzungstagen laut Aussage des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl nun nicht mehr lange dauern und die Urteilsverkündung noch in diesem Frühjahr folgen soll, und der zweite NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages vor der Sommerpause seinen Abschlussbericht vorlegen will. Dann wäre das Thema der Verbrechen des NSU noch vor der Bundestagswahl offiziell vom Tisch. Abgehakt, erledigt - ohne wirkliche Aufklärung der Morde, der Anschläge und der Vertuschung.
Die Angehörigen der Ermordeten und die Betroffenen der Anschläge wurden mehr als zehn Jahre lang verdächtigt und verleumdet, viele von ihnen wurden mit dem rassistischen Begriff "Dönermorde" stigmatisiert. Bis heute ist nicht geklärt, wie der NSU über so lange Zeit morden und rauben konnte, wer das Netzwerk unterstützte, wer Ermittlungen erschwerte und Akten vernichtete, was der Verfassungsschutz wusste. Die Frage ist auch, welche Rolle rassistische Einstellungen bei vielen Menschen dabei spielten und warum die Legende von den "Dönermorden" geglaubt wurde.
Tribunal in Köln-Mühlheim
Den Betroffenen eine Stimme zu geben, ihre Geschichten in den Mittelpunkt zu stellen und damit Schluss zu machen, dass aus den Opfern Täterinnen und Täter gemacht werden - das ist das Ziel des Tribunals, das im Schauspiel Köln stattfinden wird, ganz in der Nähe der Keupstraße und am letzten Tag dann auch direkt draußen auf der Straße. Dort, wo der NSU am 9. Juni 2004 einen seiner brutalen Anschläge verübt hat, einen Nagelbombenanschlag. Wo die Arbeit zur Vorbereitung des Tribunals begonnen hat, im Jahr 2013, wie Mit-Organisator Massimo Perinelli bei der Auftakt-Veranstaltung sagt: "Wo damals Schweigen herrschte und niemand mehr über die Nagelbombe von 2004 redete." Das sollte sich ändern, auch dafür ist das Aktionsbündnis zusammengekommen. "Wir wissen immer noch nicht genau, wer der NSU war", sagte Massimo Perinelli. "Deswegen haben wir uns entschlossen, selber diese Arbeit zu machen, mit sehr vielen Menschen aus der Zivilgesellschaft."
Viele Initiativen und einzelne Menschen aus der ganzen Republik haben sich zum Aktionsbündnis zusammengeschlossen und werden das Tribunal veranstalten. Mit Betroffenen des NSU, internationalen Gästen, Überlebenden des Nationalsozialismus und vielen Unterstützer/innen. Betroffene werden erzählen, auch die Kölner Keupstraße, und ihre Geschichte wird ein Thema sein. Geplant sind Workshops über Antisemitismus, Rassismus und Sexismus. Visionen von einer "Gesellschaft der Vielen" sollen entwickelt werden, gegen jede Art von Ausgrenzung.
Eine inszenierte Urteilsverkündung wird es am Ende des Tribunals im Mai jedoch nicht geben; die Gesellschaft muss die Schlussfolgerungen selbst ziehen, im Grunde sollte auch jede und jeder Einzelne das für sich tun.
Erstunterzeichnerin des Aufrufs, den möglichst viele Menschen auf der Website des Aktionsbündnisses unterschreiben sollen, war bei der Auftaktveranstaltung die Gastgeberin Shermin Langhoff, Intendantin des Berliner Maxim-Gorki-Theaters.
Im Aufruf heißt es:
"Ich klage - um die Opfer der NSU-Mord- und Anschlagsserie.Ich klage - empört über die Verhinderung der versprochenen lückenlosen Aufklärung.Ich klage an - die rassistische Gewalt in Deutschland und die Personen, die diese Gewalt ausführen oder anordnen.Ich klage ein - das gute Leben für alle Menschen."
Links:
Hier kann man weiterlesen, sich unter anderem über das Programm des Tribunals in Köln informieren, den Aufruf des Aktionsbündnisses unterzeichnen und Geld spenden, um die ehrenamtliche Arbeit der Aktiven für das Tribunal zu unterstützen:
www.nsu-tribunal.de facebook.com/nsutribunal www.tribunal-spots.net www.nsu-tribunal.de/spenden
"Im Kontext NSU... Welche Frage stellen Sie?"
Ausstellung in der ver.di-Bundesverwaltung
Noch bis zum 17. Juni 2017 wird im Foyer des ver.di-Hauses in Berlin die Ausstellung der bildenden Künstlerin beate maria wörz gezeigt.
Für ihr Projekt aus möglichst vielen Großplakaten, die in 20 deutschen Städten im öffentlichen Raum gezeigt werden sollen, hat beate maria wörz vor fast vier Jahren begonnen, sich bei Menschen aus den verschiedensten Berufen, mit und ohne Migrationshintergrund, zu erkundigen, welche Frage sie im Zusammenhang mit dem NSU stellen - sich und uns allen. So fragt Kutlu von der Microphone Mafia: "Wo bleibt der gemeinsame Aufschrei?" 50 Fragen sind bisher zusammengekommen.
Und das Projekt geht weiter: Jeder kann seine Frage formulieren, auf einer Postkarte in der Ausstellung oder online.
Auf der Website www.plakataktion-kontext-nsu.de kann man sich weiter informieren und an der Aktion beteiligen, auch mit dringend benötigten Spenden!
Das Plakat-Projekt wurde auch beim Auftakt zum NSU-Tribunal am 16. März im Berliner Maxim-Gorki-Theater präsentiert.
Ausstellungsort: ver.di-Bundesverwaltung Paula-Thiede-Ufer 10 10179 Berlin Montag bis Freitag 8 bis 19 Uhr