Unübersehbarer Protest am 15. März in Sao Paulo gegen die neuen Sozialgesetze der Regierung

Brasiliens seit einem Jahr am Ruder befindliche Regierung von Präsident Michel Temer von der "Partei der Demokratischen Bewegung" hat den Kurs des Landes neu bestimmt. Große Reformen sollen den Staat "schlanker" machen und die in einer Jahrhundertrezession steckende Wirtschaft wieder in Fahrt bringen. Als Ballast werden vor allem die sozialen Errungenschaften aus der Ära der linksgerichteten Arbeiterpartei (PT) gesehen. Gestützt auf eine Ausweitung der Rohstoffexporte und ohne die Privilegierten anzutasten, hatte deren Politik die Armut von Millionen verringert. Viele konnten auf der gesellschaftlichen Leiter ein Stück aufsteigen. Ökonomisch profitierte Brasilien von wachsender Massenkaufkraft.

Kürzungen in Milliardenhöhe

Doch längst schlägt die Krise der Weltwirtschaft auch bei dem südamerikanischen Riesen voll durch. Hunderttausende Arbeitsplätze gingen verloren oder sind gefährdet. Die Export-Erlöse sind eingebrochen, in den öffentlichen Kassen herrscht Ebbe. Nicht nur im Bundesstaat Rio de Janeiro, dem Zentrum der Ölindustrie, warten öffentlich Bedienstete monatelang auf ausstehende Löhne, während das Leben täglich teurer wird. Woher soll Brasilien nun das Geld für soziale Aufgaben nehmen?

Temer und sein Kabinett reicher weißer Männer haben genaue Vorstellungen davon, wer für die Krise zahlen soll. Privatisieren und Kürzen heißen ihre Rezepte. Damit die umgesetzt werden können, wurde die 2014 gewählte Präsidentin Dilma Rousseff im vergangenen Jahr mittels eines fadenscheinigen Amtsenthebungsverfahrens durch das von rechten Evangelikalen, Waffenlobbyisten und Grundbesitzern beherrschte Parlament entmachtet. Eine schmutzige Kampagne des von einer Handvoll Oligarchen kontrollierten Kartells der Globo-Medien unterstützte das Komplott, an dessen Spitze ihr koalitionsbrüchig gewordener Vize Temer stand.

Als eine "Brücke in die Zukunft" bezeichnet der Präsident sein Programm, das kein Votum des Volkes hat. Diese Brücke dürfte für die Mehrheit seiner Landsleute zu schmal werden. Ihr erster Abschnitt bestand Ende 2016 in einer Verfassungsänderung, die die Haushaltsausgaben für bis zu zwanzig Jahre deckelt. Daraus folgen Kürzungen bei den Ausgaben für Bildung, Soziales und Gesundheit in Milliardenhöhe. Proteste auf den Straßen werden mit Knüppeln, Wasserwerfern und Gummigeschossen der Militärpolizei beantwortet. Die Parole "Fora Temer" (Weg mit Temer) ist dennoch überall im Land zu hören und zu sehen. Nichts zu sehen ist hingegen, trotz anderslautender Beteuerungen seiner Minister, von der vollmundig versprochenen wirtschaftlichen Trendwende. Die offizielle Arbeitslosenrate im Land ist auf über elf Prozent hochgeschnellt. Seit 2015 hat sie sich mehr als verdoppelt.

Landesweiter Aktionstag und andere Proteste

Auf dem Bauplan der Machtinhaber steht nun eine große Reform des Sozialversicherungssystems. Reform bedeutet auch hier dessen Aushöhlung. Im Visier hat sie nicht die vielen Großunternehmen, die es vorziehen, Strafen zu zahlen, die regelmäßig viel niedriger ausfallen als die eigentlich zu entrichtenden Sozialbeiträge. Das Geld der kleinen Leute soll die Löcher in den Kassen stopfen. Es geht um die Rentenansprüche von Millionen. Wer eine Altersversorgung in voller Höhe erhalten möchte, soll dafür künftig 49 Beitragsjahre nachweisen müssen. Für viele Brasilianer ist das völlig utopisch. Denn in Zeiten, in denen sie erwerbslos, freiberuflich, informell oder prekär tätig sind, zu Hause Kinder oder Alte betreuen, ist es ihnen meist unmöglich, solche Beiträge zu entrichten. Nicht zu vergessen die Hausangestellten der Mittel- und Oberschicht. Die meisten davon sind afrobrasilianische Frauen. Sie wurden vor der 13 Jahre währenden Ära der Arbeiterpartei PT fast stets schwarz beschäftigt.

Um überhaupt eine Rente zu erhalten, sind nach den Plänen künftig 25 - statt wie bisher 15 Beitragsjahre erforderlich. Unter die neuen Regelungen würden alle Männer unter 50 und Frauen unter 45 Jahre fallen. Das früheste Renteneintrittsalter soll einheitlich 65 Jahre betragen. Damit stiege es für Männer um fünf und für Frauen um zehn Jahre. Nicht zufällig bildeten die Demonstrationen am 8. März aus Anlass des Frauentages den Auftakt zu den Protesten der sozialen Bewegungen und der Gewerkschaften gegen das Projekt.

Eine Woche später folgte ein landesweiter Aktionstag, zu dem breite linke Bündnisse aufgerufen hatten. Auch das Temer-Lager macht Druck. Seine Partei der Demokratischen Bewegung droht: Käme die Reform nicht, müssten die von den PT-geführten Regierungen eingeführte Sozialhilfe und die Beihilfe für Studierende aus ärmeren Familien dran glauben.

Das Vorhaben muss nun durch beide Kammern des Parlaments. Es betrifft sowohl öffentlich als auch in der privaten Wirtschaft Beschäftigte, nur das Militär nicht. Die Gewerkschaften wollen der Reform auf der Straße den Weg verlegen. Das Motto der Proteste: "Handle jetzt oder stirb arbeitend". Vagner Freitas, der Präsident des größten Gewerkschaftsdachverbands CUT, erklärte: "Das ist keine Reform, sondern eine Demontage." Es gehe der "illegitimen Regierung" darum, privaten Versicherungen und Banken ein "historisches Recht der Arbeiterklasse" zu opfern.