Martin Steidl

ver.di publik - Zum 1. Januar 2018 steigt der Hartz-IV-Regelsatz auf 416 Euro. Reicht das in einer Stadt wie München zum Leben?

Martin Steidl - Überhaupt nicht - und in einer Stadt wie München schon gar nicht. Hier sind die Lebenshaltungskosten deutlich höher als in vielen anderen Regionen Deutschlands. Und schon dort ist es eigentlich nicht möglich, mit dem Regelsatz auszukommen.

ver.di publik - Mit welchen Problemen kommen die Menschen zu euch in die ver.di-Erwerbslosenberatung?

Steidl - Überwiegend sind es finanzielle Probleme. Man merkt schon, dass um jeden einzelnen Euro gekämpft wird. Häufig stellen wir in der Beratung fest, dass Bescheide falsch sind. Da werden Leistungen nicht bewilligt, auf die Ansprüche bestehen.

ver.di publik - Rund 30 Prozent der Bescheide sollen fehlerhaft sein. Wie kommt es dazu?

Steidl - Ein Grund ist der Personalmangel. Von Anfang an waren die Jobcenter personell unterbesetzt. Nicht nur hier in München wird immer nur nach Fallzahlen geschaut, nicht aber danach, welche Fälle das sind. Da der Arbeitsmarkt in München recht gut ist, finden viele Leute zumindest für eine kurze Zeit eine neue Arbeit oder einen Nebenjob. Dann muss ständig neu gerechnet werden.

Viele Stellen in den Jobcentern sind nur befristet, es gibt eine hohe Fluktuation. Es dauert zudem lange, bis sich neue Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in die komplexe Materie eingearbeitet haben. Hinzu kommen immer wieder neue Weisungen und Gesetzesänderungen.

ver.di publik - Was rätst du Erwerbslosen?

Steidl - In jedem Fall sollten sie ihre Bescheide noch einmal prüfen lassen.

ver.di publik - Du hast selbst fast 30 Jahre lang in der Arbeitsverwaltung gearbeitet. Wie kam es zum Wechsel in die Erwerbslosenberatung?

Steidl - Ich habe in vielen verschiedenen Bereichen gearbeitet, kenne mich in allen Sozialgesetzbüchern recht gut aus. Es wäre schade, wenn ich dieses Wissen brachliegen lassen würde.

ver.di publik - Wie regieren ehemalige Kolleg/innen darauf?

Steidl - Die, mit denen ich noch Kontakt habe, finden das in Ordnung. Das heißt ja nicht, dass ich alles für falsch halte, was sie machen. Jeder im Jobcenter hat zwar eine Beratungspflicht, die Leute, die kommen, müssen auch über ihre Rechte aufklärt werden. Häufig haben die Sachbearbeiter aber einfach keine Zeit, auch nicht, um die Bescheide zu erklären. Das mache ich jetzt oft. Und wenn ‘was falsch ist, helfe ich dabei, Widerspruch einzulegen.

ver.di publik - Und was sagen die Erwerbslosen, wenn sie erfahren, wo du mal gearbeitet hast?

Steidl - Die meisten finden das gut. Einige schlucken aber erst einmal. Sie haben immer wieder schlechte Erfahrungen mit verschiedenen Sachbearbeitern gemacht.

ver.di publik - Hilft dir deine Erfahrung als ehemaliger Jobcenter-Beschäftigter bei den Beratungen?

Steidl - Ein klares Ja. Ich habe schon immer auf der Seite der Leute gestanden, habe geschaut, wie ich ihnen helfen kann. Ich kann den Leuten auch klarmachen, dass nicht alles böse ist, was vom Jobcenter kommt. Die Jobcenter-Beschäftigen machen oft nur ihre Arbeit, vollziehen Gesetze und sind genau wie die Erwerbslosen Gefangene des Hartz-IV-Systems.

ver.di publik - Auf welcher Seite hattest du das Gefühl, besser helfen zu können?

Steidl - Im Jobcenter war ich derjenige, der entschieden hat. Da konnte ich direkt helfen, indem ich zum Beispiel eine Fortbildung bewilligt habe. Jetzt helfe ich den Leuten, sich zu wehren.

ver.di publik - Haben die Jobcenter noch die Möglichkeiten, Erwerbslosen zu helfen?

Steidl - Gerade jüngeren Menschen, die zum Jobcenter kommen, sollte man einen Weg aufzeigen, um sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Aber der Eingliederungsetat wird immer weiter gekürzt, die Gestaltungsfreiheit der Arbeitsvermittler wird stark eingeschränkt. Das wenige Geld, das noch bleibt, wird dann für sinnlose Maßnahmen ausgegeben, für immer wieder neue Bewerbungstrainings oder so. Es wird schnell in Zeitarbeit vermittelt, dann ist der Fall ohne großen Aufwand aus der Statistik verschwunden. Das ist eine Folge des Zahlendrucks, unter dem die Arbeitsvermittler stehen.

ver.di publik - Was wäre die Alternative?

Steidl - In meinem letzten Jahr als Arbeitsvermittler hatte ich einen ausländischen Arzt. Damit er hierzulande als Arzt arbeiten kann, muss er eine Kenntnisprüfung ablegen. Die Vorbereitung darauf dauert ein Jahr und kostet rund 60.000 Euro. Ich habe es geschafft, dass die Maßnahme genehmigt wurde. Das war ein großer Aufwand für mich, und das reißt ein Riesenloch in den Etat. Aber das rechnet sich. Denn jemand, der das gemacht hat, findet mit Sicherheit Arbeit, und das dauerhaft.

Die überwiegende Zahl der Sachbearbeiter versucht das aber gar nicht erst, dafür fehlen Geld und Zeit. Nur die Vermittlung zählt, es ist egal, ob jemand nur für vier Wochen Arbeit hat oder länger. Da wird dann oft auch in prekäre Arbeit vermittelt. Das ist nicht nachhaltig.

ver.di publik - Ist es trotz der immer weiter eingeschränkten Spielräume möglich, etwas anders zu machen?

Steidl - Es gibt durchaus noch Ermessensspielräume, die genutzt werden können. Zum Beispiel gab es früher schon genaue Vorgaben, wie viele Eingliederungsvereinbarungen wir abschließen mussten. Aber es ist ja auch die Frage, wie genau ich auf deren Einhaltung bestehe.

ver.di publik - Sind die Jobcenter-Mitarbeiter deiner Erfahrung nach dazu bereit?

Steidl - Es ist oft personenabhängig. Die Leute, die im Jobcenter arbeiten, sind ein Spiegelbild der Gesellschaft. Einige sind mit Empathie dabei, andere tun so, als ob sie jeden Euro aus ihrer eigenen Tasche zahlen müssten. Die befristet Beschäftigten stehen zudem unter dem Druck, dass sie alles machen müssen, um entfristet zu werden.

ver.di publik - Wenn du auf dein Arbeitsleben zurückblickst: Was hat sich verändert im Laufe der Zeit?

Steidl - Durch die Hartz-Gesetze hat sich viel verändert. Seither gilt, dass sozial ist, was Arbeit schafft. Sie haben viel dazu beigetragen, einen großen Niedriglohn-Sektor zu schaffen. Jemand, der heutzutage arbeitslos wird, landet schnell im Billigjob. Die Gesetze setzen auch Beschäftigte unter Druck, diese anzunehmen. Sie wissen, dass sie schon nach einem Jahr Arbeitslosigkeit nur noch Arbeitslosengeld II bekommen.

Interview: Heike Langenberg

Martin Steidl, 68, berät seit drei Jahren Erwerbslose im ver.di-Bezirk München und Region. 2014 ist er in Rente gegangen, vorher hat der studierte Sozialpädagoge von 1985 an in Berlin und später in seiner Heimatstadt München in der Arbeitsverwaltung gearbeitet, zuletzt in einem Jobcenter. Dabei war er auf verschiedenen Positionen tätig und durchgehend auch Mitglied der jeweiligen Personalräte.


ver.di berät Erwerbslose

Vielerorts, besonders in den Großstädten, bietet ver.di spezielle Erwerbslosenberatungen an, teilweise gemeinsam mit Kooperationspartnern. Nähere Infos über die jeweiligen Angebote vor Ort gibt es in allen ver.di-Geschäftsstellen. Außerdem berät ver.di Erwerbslose und Aufstocker/innen online. Die jeweiligen Angebote sind zu erreichen unter www.verdi-erwerbslosenberatung.de und www.verdi-aufstockerberatung.de

"Die Jobcenter-Beschäftigten machen oft nur ihre Arbeit, vollziehen Gesetze und sind genau wie die Erwerbslosen Gefangene des Hartz-IV-Systems."