Ausgabe 01/2018
Es geht um mehr als die Wurst
Die ungebremste Industrialisierung der Landwirtschaft hat verheerende Folgen. Das Bündnis "Wir haben es satt!", dem mittlerweile 55 Organisationen und Verbände angehören, brachte zu Beginn des Jahres in Berlin 33.000 Menschen für eine Agrarwende auf die Straße
Aufgepasst: Nicht jedes Bio-Huhn ist auch ein biologisch artgerecht gehaltenes Huhn
Zum achten Mal hat das Netzwerk "Wir haben es satt!" in diesem Jahr zur Großdemonstration nach Berlin eingeladen. Anlässlich der Agrarmesse "Grüne Woche" sammeln sich jedes Jahr im Januar Tausende Teilnehmer/innen hinter einer Armada von Traktoren aus dem gesamten Bundesgebiet, um für reinen Bio-Anbau und gegen die weitere Industrialisierung der Landwirtschaft sowie die globalen Fehlsteuerungen durch Landübernahmen und Futtermittelanbau zu demonstrieren. Das diesjährige Motto lautete: "Essen ist politisch!" Rund 33.000 Menschen waren zur Demo nach Berlin gereist.
Essen ist ein heikles Thema, bei dem viele Menschen sich schnell angegriffen fühlen. So mag zu erklären sein, dass Umfragen zu Ernährungsgewohnheiten in auffälliger Diskrepanz zur offiziellen Statistik stehen. In einer Befragung des Civey-Instituts gaben 21 Prozent der Befragten an, täglich Fleisch beziehungsweise Wurst zu essen, während dieser Wert laut aktuellem Ernährungsreport bei fast 33 Prozent liegt. Noch deutlicher ist die Kluft bei Wünschen zur Qualität der Fleischwaren: Während in der Befragung 90 Prozent angaben, sie wären bereit, mehr Geld für Fleisch aus artgerechter Haltung zu zahlen, liegt der Anteil von Biofleisch (Rind, Schwein, Geflügel) am Gesamtfleischkonsum nach Angaben des Bundes für ökologische Landwirtschaft bei deutlich unter 5 Prozent. Offenbar ist es manchem wichtiger, sozial erwünschte Antworten auf Fragen zur persönlichen Ernährung zu geben, als das eigene Essverhalten einer gründlichen Prüfung zu unterziehen.
Über den Tellerrand schauen
Vermutlich teilt auch eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nicht die These, dass Essen politisch sei. Wer sich auf die eigenen Mahlzeiten, die eigenen Vorlieben und Abneigungen konzentriert - also buchstäblich nicht über den Tellerrand hinausschaut - mag zu solchen Schlussfolgerungen gelangen. Das Bündnis "Wir haben es satt!", dem mittlerweile 55 Organisationen und Verbände wie der BUND, attac, Oxfam und Bauernhöfe statt Agrarfabriken angehören, will deshalb Zusammenhänge aufzeigen. "Die Politik nährt eine Agrarindustrie und lässt sie auf Kosten von Umwelt, Klima und Tieren produzieren", sagt Bündnis-Sprecher Jochen Fritz, der selbst einen Biolandwirtschaftsbetrieb in Werder/Havel betreibt.
Das Bündnis will deutlich machen, wie eng dabei alles zusammenhängt, von der Produktion von Lebensmitteln und den Rahmenbedingungen dafür bis zu ihrer Verteilung und ihrer Bewertung. Vor der Nahrungsaufnahme kommt die Herstellung von Getreide, Gemüse, Fleisch, Eiern und Milchprodukten. Dabei werden Lebensmittel in immer größeren Betrieben erzeugt. Allein in den zurückliegenden zwölf Jahren, so das Bündnis, hätten in Deutschland ein Drittel der Höfe, darunter viele kleinere Höfe, schließen müssen. Dabei gibt es engagierte junge Landwirte und Landwirtinnen - etwa Elisabeth Freesen, die per Traktor aus Niedersachsen zur Demo nach Berlin angereist war und in ihrem Redebeitrag klarstellte, dass sie gerne "Verantwortung für den Hof, die Region und eine zukunftsfähige, bäuerliche Landwirtschaft" übernehme. Sie und viele andere Bäuerinnen und Bauern wollen "unsere Äcker und Teller nicht der Agrarindustrie überlassen".
Zwei von 33.000 Protestierenden auf der "Wir haben es satt!"-Demo
Die Macht der Großkonzerne
Ackerland ist allerdings weltweit zum gefragten Spekulationsobjekt geworden. Ob Flächen in Lateinamerika, auf denen Soja als Futtermittel für die Rinderaufzucht angebaut werden, die den Fleischhunger der Menschen in den "reichen" Ländern stillen sollen, den Bauern vor Ort weggenommen oder ob in afrikanischen Ländern Kleinbauern regelrecht von ihrem seit vielen Generationen genutzten Ackerland vertrieben werden - die Macht der Großkonzerne wird überall sichtbar. Und sie geben vor, was und wie angebaut wird, etwa Mais zur Energiegewinnung oder Soja als Futterpflanze. Dazu sagte die Brasilianerin Fátima Aparecida Garcia de Moura von der Federação de Órgãos para Assistência Social e Educacional (FASE) auf der Demonstration in Berlin: "Soja ist nicht nachhaltig, es ist kein richtiges Lebensmittel, sondern vorrangig Futtermittel und wird vor allem für den Export produziert. Sojaanbau führt zu Vertreibungen von Familien und Landverlust."
Aber auch dort, wo etwa in Deutschland Kartoffeln, Gemüse und Getreide angebaut werden, geschieht das überwiegend auf riesigen Flächen, die nur mit schwerem Gerät und unter Einsatz von Kunstdünger sowie dem ganzen Arsenal chemischer Pestizide bearbeitet werden können. Durch diese Monokulturen verliert der Boden Nährstoffe. Dünger und Pestizide gelangen ins Grund- und von dort ins Trinkwasser. "Unternehmen wie Bayer und Monsanto fusionieren zu immer größeren Megakonzernen, wollen Macht vom Acker bis zum Teller - und verdienen Milliarden mit unserem Essen", heißt es in einer Erklärung von "Wir haben es satt!". Die Folge seien Lebensmittelskandale, die Verbreitung des giftigen Pestizides Glyphosat, Antibiotikaresistenzen, Gentechnik und Patente auf Tiere und Pflanzen. Obendrein ziehen sich aus den monotonen Landschaften, die kaum noch Spontanvegetation, Dickichte und natürliche Wiesen bieten, Vögel, Insekten und Wildtiere zurück.
Pseudo-Bio schadet Tieren
Rinder, Schweine, Geflügel werden in Stallanlagen auf engstem Raum gehalten und gemästet. Spaltenböden statt Stroh, Kunstlicht statt picken und grasen im Freien, Futter zur schnellen Mast statt naturgemäße Aufzucht der Tiere prägen diesen Teil der industriellen Landwirtschaft. Und dabei spielen teilweise auch sogenannte Biobetriebe mit. Im Sommer 2017 deckte der Bericht "Die Eierlüge" des Nachrichtenmagazins Report Mainz auf, wie im großen Stil bei der Produktion von Bio-Eiern betrogen wird. Die Fernsehjournalisten fanden bei ihrer Recherche Pseudo-Biobetriebe vor, in denen bis zu 30.000 Hennen unter tierquälerischen Bedingungen gehalten wurden - ohne ausreichenden Auslauf im Freien, der für Betriebe, die Bio-Eier erzeugen, vorgeschrieben ist. Zudem sollten in Bio-zertifizierten Betrieben maximal 3.000 Hennen gehalten werden.
Manche Konsument/innen glauben angesichts solcher Fernsehbilder, dass "Bio" immer gleichbedeutend mit Schwindel sei. Doch dieser Schluss greift zu kurz, wie viele Positivbeispiele von Höfen belegen, auf denen Tierwohl und Nachhaltigkeit im Mittelpunkt stehen. Auch der Report-Beitrag zeigte Bilder eines solchen Betriebes: Auf dem Hof Hasenkrug von Hans-Dieter Greve leben die Legehennen frei auf einer Wiese und werden jede Woche per Hühnermobil - einem bewegbaren Stall - auf einen frischen Abschnitt der Weide gebracht, wo sie artgerecht picken und scharren können. Am Ende kostet das so erzeugte Bio-Ei 35 Cent, heißt es im Beitrag, während das Ei aus Pseudo-Bioproduktion für 26 Cent beim Discounter angeboten wird. Die Verbraucher/innen haben also die Wahl.
Dass die gängige Art der industriellen Landwirtschaft zu gigantischen Überschüssen beiträgt, die zu Dumpingpreisen in arme Länder gelangen, wo sie die vorhandenen Strukturen der Lebensmittelproduktion vollends zerstören, ist eine weitere Folge. Und nicht vergessen werden sollten die irrwitzigen Mengen an Lebensmitteln, die jeden Tag aufgrund von Überproduktion und optischer Ansprüche des Handels im Abfall landen. Gegenbewegungen existieren. Lebensmittelretter kümmern sich um weggeworfenes Essen, Organisationen wie die BioBoden Genossenschaft eG kaufen Ackerland für die dauerhafte Nutzung durch Bio-Betriebe.
Unter dem Dach von "Wir haben es satt" sammeln sich die Gegenbewegungen, es werden immer mehr. Für eine Agrarwende muss sich aber noch mehr rühren - in der Politik und auch bei den Verbraucher/innen.
Pestizidfrei geht's auch
Mals in Südtirol ist ein besonderer Ort: Seit einiger Zeit ist er pestizidfrei - und damit einzigartig in Europa. Bereits im September 2014 hatte die große Mehrheit der Malser / innen bei einem Volksentscheid für das Ende chemischer Pestizide in ihrer Gemeinde votiert. Allerdings setzte sich die damalige Gemeindevertretung noch über das Votum hinweg. Mit den Wahlen vom Mai 2015 errangen die Pestizidgegner / innen aber die Mehrheit und machten sich daran, den Bürger / innen-Willen umzusetzen. "Heute ist Mals frei von chemischen Pestiziden, in einigen Jahren wird es ganz Südtirol sein", sagte Ulrich Veith, Bürgermeister der Gemeinde Mals, auf der Großdemo in Berlin. "Vielleicht zieht Europa mit. Großes entsteht immer im Kleinen."
gg
www.gemeinde.mals.bz.it/de/Projekte_und_Themen/Volksabstimmung/Einsatz_von_Pflanzenschutzmitteln