Die Perspektiven mit einer großen Koalition

Dierk Hirschel leitet den Bereich Wirtschaftspolitik bei ver.di

Deutschland könnte bald wieder regiert werden. Der Republik droht eine Neuauflage der Großen Koalition. Angela Merkel, Martin Schulz und Horst Seehofer haben verhandelt, die politische Elefantenhochzeit wird aber nur vollzogen, wenn die SPD-Mitglieder ihr Ja-Wort geben. Große Koalitionen sind hierzulande äußerst unbeliebt. Die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner erschwert politische Richtungsentscheidungen. Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen verlangen aber nach solchen Weichenstellungen. Eine politische Lähmung der Republik nutzt nur den Rechtspopulisten. Entscheidend ist somit die Politik der Großen Koalition. Kann eine Große Koalition sozial gerechte und ökonomisch vernünftige Politik machen? Jetzt zeichnet sich ab, was auf uns zukommt.

Die guten Nachrichten zuerst: CDU, CSU und SPD wollen Altersarmut durch eine Grundrente - zehn Prozent über regionalem Grundsicherungsbedarf - bekämpfen. Das Rentenniveau soll in den nächsten sieben Jahren, auch bei schlechter Wirtschaftslage, nicht unter 48 Prozent sinken. Die Erwerbsminderungsrente soll erhöht werden. Des Weiteren soll ein sozialer Arbeitsmarkt 150.000 Langzeitarbeitslosen in Arbeit helfen. Ferner will die Große Koalition in spe ein Rückkehrrecht von Teil- auf Vollzeit einführen und Arbeitgeber sollen wieder zu gleichen Teilen wie die Beschäftigten die Krankenversicherung finanzieren. Darüber hinaus möchten Merkel, Schulz & Co in Digitalisierung, Wohnungsbau, Pflege und frühkindliche Bildung investieren. Ein Sofortprogramm Pflege sieht mehr Stellen und verbindliche Personaluntergrenzen vor. In den Krankenhäusern sollen Tarifsteigerungen vollständig refinanziert werden.

Die schlechten Nachrichten lauten: Die Regierung im Wartestand will die Verhandlungsmacht der Beschäftigten nicht verbessern. SPD und Union konnten sich nicht darauf einigen, Tarifverträge durch eine erleichterte Allgemeinverbindlichkeit und eine kollektive Nachwirkung zu stärken. Folglich droht die Tarifbindung weiter zu sinken. Zudem will Schwarz-Rot die Midi-Jobs ausweiten und fördert so prekäre Beschäftigung. Schlecht ist auch, wie die drei Wahlverlierer mit den Staatsfinanzen umgehen wollen. Sie möchten den Staatshaushalt führen, wie den Privathaushalt einer schwäbischen Hausfrau. Die "Schwarze Null" soll dafür sorgen, dass nicht mehr ausgegeben wird, als die Einnahmen hergeben. Die nächste Regierung kann ohne neue Schulden maximal 45 Milliarden Euro ausgeben. Das reicht hinten und vorne nicht.

Allein der kommunale Investitionsstau beläuft sich auf 126 Milliarden Euro. In Verkehr, Gesundheit, Bildung und Wohnungsbau müsste jedes Jahr ein mittlerer zweistelliger Milliardenbetrag investiert werden. Sozialdemokraten und Union kleckern aber nur. Doch damit nicht genug. Wer nur nach Kassenlage investiert, muss sofort den Rotstift ansetzen, sobald am Konjunkturhimmel dunkle Wolken aufziehen. Diese finanzpolitische Selbstfesselung ist in Anbetracht des milliardenschweren Investitionsbedarfs und historischer Tiefzinsen ökonomischer Schwachsinn.

Erschwerend kommt hinzu, dass schwarz-rote Steuersenkungen die öffentlichen Kassen plündern. Der beabsichtigte Soli-Verzicht kostet Bund, Länder und Kommunen zehn Milliarden Euro. Ohne Gegenfinanzierung kann dieses Steuergeld zukünftig nicht mehr in Kitas, Schulen, Krankenhäuser und Sozialwohnungen investiert werden. Ebenso unsinnig ist die geplante Deckelung der Sozialabgaben bei 40 Prozent. Notwendige Leistungsverbesserungen bei Rente, Gesundheit und Arbeitslosigkeit stehen somit unter dem Finanzierungsvorbehalt eines neoliberalen Glaubenssatzes.

Unter dem Strich sind die schwarz-roten Pläne natürlich immer noch besser als die wirtschaftsliberale Agenda einer Jamaika-Koalition. Eine konsequent arbeitnehmerorientierte Politik geht aber anders. Unser Land braucht eine Regierung, die Tarifverträge stärkt, die Rente armutsfest macht, den Pflegenotstand überwindet, für mehr Steuergerechtigkeit sorgt, ausreichend bezahlbaren Wohnraum schafft und kräftig in die Zukunft unserer Kinder investiert.

Folglich werden die Gewerkschaften auch weiterhin für gesellschaftliche Mehrheiten streiten müssen, die eine sozial gerechte und ökonomisch vernünftige Politik ermöglichen.

Diese finanzpolitische Selbstfesselung ist in Anbetracht des milliardenschweren Investitionsbedarfs und historischer Tiefzinsen ökonomischer Schwachsinn.