Twitter

DEN VOGEL ABGESCHOSSEN

Wenn die Pflege zum Patienten wird

Erwin Rüddel ist ein CDU-Politiker aus Rheinland-Pfalz. Der Betriebswirt hat einmal ein Seniorenheim geleitet und ist heute Vorsitzender im Gesundheitsausschuss des Bundestags. Eigentlich wollte der Mann für die Große Koalition werben. Zu viel Schlechtes lese man beispielsweise über den Pflegeberuf. Also ging Rüddel auf Twitter und lud Pfleger/innen dazu ein, unter dem Hashtag #gutezeitenfürgutepflege doch auch mal positiv über ihren Beruf zu reden, und versprach im Gegenzug ein konsequentes Handeln der Politik. Das ging gründlich daneben. Seitdem geigen ihm Pflegerinnen und Pfleger aus dem ganzen Land unter dem Hashtag #twitternwierueddel die Meinung und geben einen erschütternden Einblick in ihren Berufsalltag in einem maroden Pflegesystem. ver.di publik dokumentiert einige der Stimmen:

Gedichtewicht: Danke an all die Arbeitgeber in der Pflege, die ihren eigenen Auszubildenden nach dem Examen luxuriöse 50 - 70-Prozent-Stellen anbieten. Altersarmut ab Berufsstart, wer bietet das sonst?

Sylvia Kuznia: Ich hätte nie gedacht, dass ich das erlebe: Ich finde Verstorbene in den Zimmern, immer wieder. Keiner bekommt es mit. Es ist zu viel Arbeit. Das ist grässlich.

AB_AB_LeftRight: 1. Ausbildungsjahr, dritter Einsatz Stationsleitung: "Du hast ja schon 11 Tage am Stück Frühdienst gemacht! Weißt du was, ich gebe dir morgen einen Spätdienst, damit du mal ausschlafen kannst!"

LAD_in_GAZ: Und als unser Sohn operiert werden musste und ich der Stationsleitung mitteilte, dass ich fünf Tage deswegen ausfallen werde. "Dann musst Du das im Urlaub machen lassen. Bist ja nicht krank." Dieses Mitgefühl, diese Wärme! Nur empathische Vorgesetzte in der #Pflege.

Utema: Im Babyjahr hat mich eine ältere, unverheiratete Verwandte gefragt, ob die Nächte mit dem Kleinen nicht anstrengend wären, mein verständnisloser Blick: "Im Dienst habe ich nachts 30 Patienten alleine."

DerFilmjunkie: Habe zu meinem Versetzungsantrag eine Beschwerde über die fahrlässigen Zustände auf Station eingereicht. Antwort der Pflegedienstleitung: "Versetzt werden Sie auf keinen Fall; wenn es Ihnen nicht gefällt, es haben schon andere das Haus verlassen."

andreas jung: Meine Mutter, 77 Jahre alt, arbeitet ehrenamtlich auf der Palliativstation und betreut sterbende Menschen, die teilweise deutlich jünger sind als sie selbst. Weil das Pflegepersonal nicht mal Zeit hat, um selbst auf die Toilette zu gehen.

Alltagimrettungs...: Wenn wir mit dem Rettungswagen nachts ins Pflegeheim fahren müssen und der Pflege helfen müssen, einen Patienten, der gefallen ist, beim Aufheben zu unterstützen.

Wieland Rose: Wenn du zwischen einem Dutzend Arbeitgeber wählen kannst, aber dir maximal 12,50 Euro die Stunde geboten werden. Mehr ist einfach nicht drin und die Stelle bleibt sonst lieber unbesetzt.

Heben, Tragen, Stemmen

Madame Hummelchen: Wenn du angeschrien wirst, weil du einer sterbenden alten Dame in den letzten fünf Minuten ihres Lebens die Hand gehalten hast. Du kannst die Scherben nicht zählen, in die deine Seele dann zerbricht.

Corinna Seegert: Heben, Tragen, Stemmen... komm in die Pflege, wenn du Bodybuilder werden willst.

krankerFleescher: Herr K. stirbt, die Hand mir entgegengestreckt, Frau P. isst gerade Tonkügelchen aus der Hydrokultur, Herr A. läuft splitterfasernackt über den Flur, Frau C. entsorgt das Inkomaterial im Aquarium, 5 Rote Lampen an. Ich alleine auf weiter Flur! Tatort? Och nö!

Tschudith: Wenn du morgens um 7.00 Uhr die liebe, alte Dame auf der Toilette sitzend findest, weil die Nachtschwester ihr um 02.08 Uhr gesagt hat, sie komme gleich wieder. Und sie es vor lauter Arbeit vergessen hat.

Wombatan: Hört auf, endlich auf so zu tun, als wäre Deutschland das Pflegewunderland. Reguliert endlich die privaten Betreiber #helios_kliniken #asklepiosgruppe Und hört auf, denen eine Subvention nach der anderen in den Rachen zu schmeißen.

Christina Anna Hajek: Wenn du eine Überlastungsanzeige schreibst und du dazu gedrängt wirst, sie zurückzunehmen. So viel Empathie von Vorgesetzten dir gegenüber gibt es nur in der Pflege.

Doppelleben: Übrigens: die Frühgeborenen lieben es, nur für nachts eine Magensonde zu bekommen, weil zwei Pflegekräfte nicht 22 Kinder füttern können. Schlau, ne?

@_Airween: Ich arbeite nicht in der #Pflege, sondern in der Küche eines Seniorenheims. Und trotzdem füttere ich, tröste ich, helfe - weil die Pfleger/innen keine Zeit haben. Und muss mir dann anhören, dass das nicht mein Job ist und wir "für den Quatsch keine Zeit haben".

Alice in Standard Land: Azubine fragt bei der Leitung schüchtern an, wieso sie allein für 30 Bewohner eingeteilt ist. "Hab ich wohl vergessen, eine zweite Kraft zu planen. Dann würde ich an ihrer Stelle mal schnell jemanden besorgen, sonst wird das ein harter Tag. Tschüssi!"

Im Vorbeirennen den Arm tätscheln

Malanee1980: Gegen Ende der Frühschicht sitzen alle Mitarbeiter völlig erschöpft im Büro. Bilanz: 1 Kollege krank, 1 Bewohner gestürzt, 1 weiterer akute Atemnot. Alle Mitarbeiter haben keine Pause gemacht. Kommt PDL (Pflegedienstleitung, die Red.) rein: Warum sitzt ihr hier rum und tut nix?!

Chaosundich: Der weinenden Mutter, deren Kind gerade Leukämie diagnostiziert bekommen hat, im Vorbeirennen, den Arm zu tätscheln, weil du allein für zwölf andere schwer kranke Kinder zuständig bist. Aber hey: Ich habe sie getröstet! So erfüllend!

RR: Du wolltest schon immer mal Menschen mit tollen Zitronenfeuchttüchern "waschen", weil Waschlappen rationiert wurden und sie anschließend mit Kopfkissenbezügen abtrocknen, weil Handtücher auch knapp sind? Dann komm zu uns in die #Pflege, dort wird dir nie langweilig.

Annette Geißler: Wenn der Nachtdienst zu zweit für 99 Bewohner ist (ab 100 gäbe es eine 3. Kraft, da bleibt ein Bett leer), dann wundert es auch nicht, dass die um 01 Uhr Verstorbene um 04 Uhr noch 100 ml getrunken hat. Muss ja stimmen, die Trinkmenge.

Master Bdr: Wenn du als Pflegepraktikant krank wirst und die Stationsleitung Panik bekommt, weil Personal fehlt. Als Pflegepraktikant. In der dritten Woche.

Sister B.: Ich bin als Aushilfe 1 Tag mitgegangen. Danach bekam ich eine eigene Tour. 13 demente Bewohner. Ungelernt!

Fräulein_Wedekind: Wie meine Großmutter allein und verängstigt im KH starb, weil keiner der Pflegekräfte, die Zeit fand, uns Angehörige zu informieren, dass etwas mit ihr war. Die Pflegerin ist vor meiner Mutter weinend zusammengebrochen. Wir wissen, es war nicht ihre Schuld.

Dominik Wolf: Dann war da noch der Moment, als eine toughe Schülerin gegenüber der Pflegedienstleitung (PDL) die Zustände kritisierte. PDL: "Man sollte sich überlegen was man sagt, wenn man übernommen werden will." Schülerin: "Wer sagt denn, dass ich übernommen werden will?"

onyx: Die alleinerziehende Mutter, die gekündigt wurde, weil sie flexiblere Arbeitszeiten wegen Betreuung ihrer Kinder wollte. Dienstbeginn 6.30, Kita öffnet 7.30. "Das ist Ihr Privatproblem". Familienfreundlichkeit in der Pflege: beispielhaft!

Artepina: Kollegen und Kolleginnen, ich bin dafür, dass wir uns endlich organisieren, um bessere Arbeitsbedingungen und höheres Entgeld durchzusetzen.