VOM BETRACHTEN DER WIRKLICHKEIT

Nach dem Mitgliedervotum vor kaum lösbaren Aufgaben

RUDOLF DRESSLER* war über Jahrzehnte führender Sozialpolitiker der SPD

Ein beeindruckend hoher Anteil der Stimmberechtigten hat sich am Mitgliedervotum der SPD beteiligt: 78 Prozent. Zwei Drittel von ihnen votierten dabei für den Eintritt in eine neue "Große Koalition", ein Drittel war dagegen. Die SPD-Führung hatte geschlossen den ausgehandelten Koalitionstext als "durchschlagenden Verhandlungserfolg" ausgegeben. Wenn man davon ausgehen darf, dass zahlreiche SPD-Mitglieder nur mit großen Bauchschmerzen zugestimmt haben, steht die Parteiführung vor einem kaum lösbaren Problem: Sie muss die gebetsmühlenartig vorgetragene These unter Beweis stellen, die Erneuerung der Partei sei sehr wohl auch bei einer gleichzeitigen Regierungsbeteiligung möglich. Und: Sie muss belegen, dass die Koalitionsvereinbarung tatsächlich ein "durchschlagender Verhandlungserfolg" war. Ein zielgenauer Blick in den schwarz-roten Vertragstext bringt Ernüchterung.

Erstes Beispiel: Die Wiederherstellung der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung wird uns als historische Errungenschaft angepriesen. Offensichtlich haben alle SPD-Unterhändler verdrängt, dass es Sozialdemokraten waren, die 2005 die gleichgewichtige Finanzierung beseitigt haben. Anders ausgedrückt: CDU und CSU haben es der SPD lediglich erlaubt, ihren krassen Fehler von vor 13 Jahren - sagen wir klar, was es gewesen ist: eine sozialpolitische Schweinerei - endlich auszumerzen.

Zweites Beispiel: Das Niveau der gesetzlichen Altersrente soll bis 2025 bei 48 Prozent stabilisiert werden. Im Jahre 2004 war es die SPD (im Verein mit den Grünen), die mit der Einführung des sogenannten Nachhaltigkeitsfaktors die Senkung des Rentenniveaus auf zunächst 46, dann bis 2030 auf 43 Prozent zugelassen hat. Auch in diesem Fall erlaubt die Union mit dem Koalitionsvertrag von 2018 die Korrektur einer SPD-Maßnahme, und das auch nur vorläufig, bis 2025.

Genauso verhält es sich - noch ein Beispiel - mit der Befristung von Arbeitsverträgen ohne sachlichen Grund, die den Arbeitgebern jetzt erschwert werden soll. Diese schlimme Gesetzgebung war der Einstieg in die Agenda-Politik des Kanzlers Gerhard Schröder im Jahre 2000. Mit einem einzigen Satz hat der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, die mit der Agenda-Gesetzgebung herbeigeführte Katastrophe beschrieben: "Die Hartz-Gesetze haben den Weg nach unten frei gemacht."

Schließlich, ein letztes Beispiel, die Ausweitung der Anerkennung von Kindererziehungszeiten - von CDU und CSU durchgesetzt unter dem Kampfbegriff "Mütterrente" - zu Lasten der Beitragszahler/innen in der gesetzlichen Rentenversicherung: eine versicherungsfremde Sozialleistung in Milliardenhöhe wird aus Sozialversicherungsbeiträgen bezahlt. So begrüßenswert das Gesetz unter sozialen Gesichtspunkten auch sein mag, so ungerecht und nicht zu akzeptieren ist - aus dem gleichen sozialen Blickwinkel - seine Finanzierung aus dem Vermögen der Rentenversicherung, statt dafür alle Steuerzahler/innen heranzuziehen.

Spätestens an dieser Stelle sei an ein Wort Kurt Schumachers erinnert, des ersten SPD-Vorsitzenden nach dem Zweiten Weltkrieg: "Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit." Diese Wirklichkeit zeigt die großen Bruchstellen in der SPD, zeigt in vielen Regionen SPD-Wahlergebnisse hinter der AfD, zeigt den Verlust von rund zehn Millionen Wählerinnen und Wählern seit dem rot-grünen Wahlsieg 1998. Wenn wir die politische Wirklichkeit betrachten und bereit sind, die seit mindestens 15 Jahren von der SPD kultivierte Neigung zu überwinden, politische Probleme zu verdrängen, dann können wir uns auch Analysen wohlmeinender Beobachter des Zeitgeschehens nähern.

Zum Beispiel derjenigen des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie, der zu dem Ergebnis kommt, dass das fortdauernde Dilemma der SPD mit der unverarbeiteten politischen Erbmasse des letzten sozialdemokratischen Bundeskanzlers zusammenhänge. Diese These Leggewies gehört unabdingbar in den Diskurs über einen Erneuerungsprozess der SPD. Und das Angebot von Orientierung, wo sich immer mehr Menschen ohnmächtig und ausgeliefert fühlen, nachdem sie zunächst links und dann rechts vergeblich Beistand gesucht haben. Wo immer wir unsere politische Heimat suchen oder gefunden haben, egal, für welche politische Farbe wir uns entschieden haben oder uns entscheiden: Unser System, die parlamentarische Demokratie, braucht eine starke Sozialdemokratische Partei.


Jahrgang 1940, Schriftsetzer, Maschinensetzer, Betriebsratsvorsitzender bei der Westdeutschen Zeitung in Wuppertal, Mitglied des Hauptvorstandes der ver.di-Vorgängerorganisation IG Druck und Papier, SPD-Bundestagsabgeordneter von 1980 bis 2000, 1982 Staatssekretär beim Bundesarbeitsminister, von 2000 bis 2005 deutscher Botschafter in Israel

Ein zielgenauer Blick in den schwarz-roten Vertragstext bringt Ernüchterung