Ausgabe 01/2019
Brexit à la Corbyn
Ein Stern in der EU-Flagge bröckelt schon – Wandgemälde des Street-Art-Künstlers Banksy im britischen Dover
Alle reden über den Brexit. Wirklich alle? Betrachtet man die Aktivitäten britischer Gewerkschaften im Laufe der letzten Wochen und Monate, entsteht ein differenzierteres Bild. Die Transportarbeitergewerkschaft RMT hat über 50 Streiktage hinter sich, um die Abschaffung von Zugbegleitern bei den privatisierten britischen Eisenbahnen zu verhindern. In Glasgow streikten im vergangenen Jahr am 23. und 24. Oktober 8.000 bei der dortigen Kommune beschäftigte Frauen für die finanzielle Gleichstellung mit ihren männlichen Kollegen. Sie hatten Erfolg: Die Stadt Glasgow hat im Januar 2019 entsprechende Maßnahmen angekündigt. Auch bei den prekär Beschäftigten tut sich etwas. Reinigungskräfte, Uber-Fahrer, junge Arbeiter*innen bei McDonalds und der Pub-Kette Wetherspoons: Sie alle haben in den vergangenen Monaten gegen unsichere Arbeitsverträge und für höhere Löhne gestreikt.
Und im Fall von Wetherspoons sieht man, dass der Brexit durchaus ein gewerkschaftliches Thema ist. Wetherspoons Eigentümer Tim Martin – er betreibt hunderte Gaststätten und Hotels in ganz Großbritannien – ist ein leidenschaftlicher Brexit-Befürworter. Deshalb zwingt er sein Personal dazu, pro-Brexit Materialien an Gäste zu verteilen und eigene Brexit-kritische Meinungen, unter Androhung der sofortigen Kündigung, für sich zu behalten. Der linke Politkommentator Owen Jones hat Ende Januar via Twitter zahlreiche entsprechende Aussagen von Wetherspoons-Beschäftigten sammeln können. Sie erreichten ihn in Folge eines Interviews mit Tim Martin, welches von letzterem abgebrochen wurde, nachdem Owen Jones kritische Fragen zur Lohnsituation bei der Firma stellte.
Mitglieder stimmten für den EU-Austritt
Der britische Gewerkschaftsbund TUC war 2017 gegen den Brexit. Nur wenige Gewerkschaften wie die RMT befürworteten den EU-Austritt. Während die RMT auf die Rolle der EU bei der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen wie beispielsweise der Eisenbahnen verwies, befürchtete der TUC durch den Brexit Einschnitte bei den Arbeitnehmerrechten. Der europäische Gerichtshof sei ein Garant dafür, dass es in Großbritannien überhaupt noch gewerkschaftliche Mindest-rechte gebe, so die Argumentation, als noch für und gegen den Brexit geworben wurde. Dennoch mussten die Gewerkschaften im Nachhinein akzeptieren, dass viele ihrer Mitglieder für den Brexit gestimmt hatten. Die Stimme für den Brexit war neben anderen Gründen eben auch eine Stimme gegen Sparpolitik, Prekarisierung und Sozialabbau.
Heute stellen sich die meisten großen Gewerkschaften gegen ein zweites Referendum, wie es von Prominenten wie der Harry Potter Autorin J.K. Rowling oder dem ehemaligen Premierminister Tony Blair gefordert wird. Auch der linke Parteichef Jeremy Corbyn steht dem eher skeptisch gegenüber, während große Teile der oppositionellen Labour-Fraktion im britischen Unterhaus immer wieder ein zweites Referendum gefordert haben.
Warum diese Skepsis? Eine Antwort gab Dave Ward, der Generalsekretär der CWU, am 23. Januar im Rahmen einer Sendung für den Londoner Radiosender LBC. Die CWU organisiert die Beschäftigten bei der britischen Post und im Kommunikationssektor. Die Post wurde von der derzeitigen konservativen Regierung privatisiert. Seitdem kämpft die CWU mit Streiks und Betriebsversammlungen gegen die Auswirkungen dieser Privatisierung. Auf die Frage, wie es die Gewerkschaft mit einem zweiten Referendum halte, sagte Ward: „Wir leben in einer gebrochenen Gesellschaft. Noch nie waren so viele Menschen obdachlos. Die Zahl der Menschen, die zwar arbeiten, aber dennoch arm sind, hat ein Rekordniveau erreicht. Und das stört mich an den Leuten, die ein zweites Referendum fordern. Sie interessieren sich nur für die EU, nicht aber für die sozialen Probleme im Land.“
Auch Len McCluskey, Generalsekretär der zweitgrößten britischen Gewerkschaft Unite the Union, hält ein zweites Referendum für „gefährlich“. Dadurch drohe die Stärkung rechter Kräfte, auch wenn er sich dagegen verwehre, jene Gegenden, in denen es eine Mehrheit für den Brexit gegeben habe, pauschal als rechts zu charakterisieren. Das sagte McCluskey im Rahmen eines am 27. Januar veröffentlichten Podcasts des Fernsehsenders Channel 4 News. Wichtig sei es, nun für einen Brexit einzutreten, der Jobs und Investitionen schütze. „Insbesondere jene Ortschaften, die sich aufgrund der Sparpolitik verlassen fühlen, brauchen jetzt Unterstützung. Wir sind für einen Brexit, der dies gewährleistet. Leider wird ein solcher Brexit von der derzeitigen Regierung nicht verfolgt.“
Eine strategische Frage ist für die britischen Gewerkschaften jene der Neuwahlen. Damit verknüpft sich die Hoffnung, mit Jeremy Corbyn einen Premierminister zu bekommen, der für einen Brexit arbeitet, wie ihn McCluskey sich vorstellt. Tatsächlich vertritt Corbyn wesentliche gewerkschaftliche Forderungen, so zum Beispiel jene nach dem Verbleib Großbritanniens in einer dauerhaften Zollunion mit der EU nach dem Austritt. Hinzu kommt die Hoffnung, dass Corbyn eine politische Alternative zum strikten Sparkurs der Regierung darstellt. Ob solche Neuwahlen kommen, ist offen und hängt auch davon ab, wie vehement die Gewerkschaften sie einfordern.