„In kürzester Zeit haben die Gelbwesten mehr erreicht als wir in den letzten zwanzig Jahren“, wundert sich ein älterer Aktivist der Gewerkschaft CGT. Noch stecken sie tief in den Knochen, jene verlorenen Kämpfe gegen Verschlechterungen, die immer „Reform“ hießen: Sarkozys Rentenreform, Hollandes Arbeitsrechtsreform, Macrons Eisenbahnreform. Niemals konnte die Regierung zum Einlenken gebracht werden.

Nun kommt ein bunt zusammengewürfelter Haufen zusammen, Frauen und Männer, Schüler und Rentner, die meistens keiner Gewerkschaft angehören, noch nie demonstriert hatten, Wert darauf legen, unparteiisch zu sein, und keine Vertreter dulden. Sie treffen sich auf Verkehrskreiseln bei Grillwurst und Glühwein. Jeden Samstag ziehen sie durch die Straßen ihrer Kreisstadt oder der Hauptstadt, ohne sich zu bemühen, Demonstrationen anzumelden. Und dieser spontane Aufstand schafft es, die Sympathie der Mehrheitsbevölkerung zu gewinnen und die regierende Partei zu verunsichern.

Gewiss hat die Protestwelle bisher zu keinen substantiellen Zugeständnissen geführt. Die Erhöhung der Benzinsteuer, die die Bewegung ausgelöst hatte, wird verschoben, nicht aufgehoben. Nicht der Mindestlohn wurde wie gefordert angehoben, sondern ein vom Staat, sprich vom Steuerzahler finanzierter Zuschlag, und zwar minimal und nicht für alle. Überstunden werden nicht mehr besteuert: Diese Maßnahme war bereits von Präsident Sarkozy eingeführt worden und aufgrund ihrer Ineffizienz wieder fallengelassen, damals mit Macrons Zustimmung.

Alles in allem verschuldet sich der Staat um über zehn Milliarden Euro mehr. Hauptsache, die Arbeitgeber werden nicht zur Kasse gebeten. Bestehen bleibt die viel kritisierte Steuergutschrift, wodurch Unternehmen letztes Jahr 21 Milliarden Euro ohne spürbaren Effekt auf die Wirtschaftslage geschenkt wurden. Und eine Wiedereinführung der Kapitalvermögenssteuer lehnt Macron kategorisch ab. Seinem Ruf, „Präsident der Reichen“ zu sein, bleibt er treu.

Die wiederentdeckte Solidarität

Und doch haben die Gelbwesten bereits Wesentliches erreicht. Zum einen hat sich die resignierte Atmosphäre aufgelöst. Arbeiterschichten, die bisher die Verschlimmerung ihres Lebensstandards schweigend erduldeten, haben über die Wochen den Sinn für kollektive Handlung und Solidarität wiederentdeckt. Zum andern befindet sich erstmals seit langer Zeit eine europäische Regierung in der Defensive. In einer ersten Phase geriet die Staatsmacht in regelrechte Panik, dann bildete sie sich ein, das Strohfeuer sei ausgebrannt.

Von beiden Fehleinschätzungen hat sie sich jetzt verabschiedet. Die Polizeigewalt ist extrem, es gibt bereits Dutzende Schwerverletzte und Verstümmelte, Demonstranten werden willkürlich festgenommen, schwere Strafen verhängt.

Zudem soll ein neuer Gesetzesentwurf das Demonstrationsrecht erheblich einschränken. Derweil wirbt Präsident Macron für eine „große nationale Debatte“, wovon jedoch jegliche Korrektur seiner bisherigen Politik von vornherein ausgeschlossen ist. Doch vermögen bisher weder die Repression noch die Nebelkerze „Bürgerdialog“, die Entschlossenheit der Protestierenden zu beschwichtigen.

Der ursprüngliche Argwohn der Linken und Gewerkschaften gegenüber der Bewegung verschiedenster Gruppen ist längst verflogen. Immer öfter demonstrieren sie zusammen. Zum Streiktag am 5. Februar haben die Gewerkschaften CGT, FSU und SUD zusammen mit den Gelbwesten aufgerufen. Offenbar wird Frankreich nicht so bald zur Ruhe kommen. Guillaume Paoli