Droht ein erneuter Absturz an den Börsen?

VER.DI PUBLIK: In Ihrem Buch beschreiben Sie zwei Systeme im langfristigen Zyklus der wirtschaftlichen Entwicklung: Realkapitalismus und Finanzkapitalismus. Wo befindet sich Europa derzeit?STEPHAN SCHULMEISTER: Mit der Finanzkrise 2008 sind wir in die Talsohle des Zyklus’ eingetreten. Ich unterscheide zwischen einer Prosperitätsphase, das waren die 1950er und 1960er Jahre, als der Realkapitalismus dominierte. In einer solchen Phase kann sich das Gewinnstreben nur durch Aktivitäten in der Realwirtschaft entfalten. Als Folge entstand Vollbeschäftigung, und es war möglich, den Sozialstaat auszubauen und dennoch die Staatsschuldenquote stetig zu senken. Seit den 1970er Jahren dominiert der Finanzkapitalismus, das Wirtschaftswachstum sank, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen. Jetzt befinden wir uns im Übergang: Das Alte funktioniert nicht mehr, aber das Neue ist noch nicht gefunden.VER.DI PUBLIK: Wie konnte es sein, dass sich der Finanzkapitalismus ab den 1970er Jahren so stark durchgesetzt hat?SCHULMEISTER: Der Realkapitalismus ist an seinem Erfolg zu Grunde gegangen. Wenn sich das Gewinnstreben nur in der Realwirtschaft entfalten kann, ereignen sich „Wirtschaftswunder“: Mit den Realinvestitionen wuchs die Beschäftigung, was gemeinsam mit besserer sozialer Sicherheit die Konsumnachfrage antrieb.

„Der Realkapitalismus ist an seinem Erfolg zu Grunde gegangen.“

Bei dauernder Vollbeschäftigung verschiebt sich aber gleichzeitig die Macht in der Gesellschaft. Gewerkschaften haben in den 1960er Jahren eine Umverteilung zugunsten der Löhne und mehr Mitbestimmung gefordert, und sie haben dies durch Verdreifachung der Streiktätigkeit in Europa zwischen 1965 und 1968 teilweise auch durchgesetzt. Die Lohnquote ist markant angestiegen. Der Zeitgeist drehte auf links. Dann kam noch die Umweltbewegung hinzu. Der Club of Rome erklärte 1970 den Kapitalismus aus ökologischer Sicht zum Auslaufmodell.

Wenn man all diese Entwicklungen in ihrem Zusammenhang begreift, ist es verständlich, dass sich die Vermögenden der neoliberalen Ideologie zugewendet haben, nach dem Motto: „So kann es nicht weitergehen.“ Die neoliberale Gegenoffensive wurde im Grunde schon seit den späten 1930er Jahren und dann ganz energisch ab 1947 mit der Gründung der Mont Pèlerin-Gesellschaft über Jahrzehnte vorbereitet. In dieser Zeit hatten die neoliberalen Denker genau jene Theorien entwickelt, die sie dann Anfang der 1970er Jahre ausspielten mit dem Argument, sie hätten ja immer schon gesagt, wohin Sozialstaatlichkeit, Sozialdemokratie und Gewerkschaftsmacht führen.

Stephan Schulmeister

VER.DI PUBLIK: Sehen Sie im Moment die realkapitalistischen Vordenker auch so gut vorbereitet?SCHULMEISTER: Nein, eben nicht. Es ist eines der größten Probleme, dass die kritischen, linken, sozial engagierten Ökonomen seit den 1970er Jahren diese Phase, in der sie selber im Abseits waren, nicht genutzt haben, um konkrete Erklärungen für die Entwicklung des Finanzkapitalismus zu liefern. Diese hätte man in der Finanzkrise 2008 und danach ausspielen können.

VER.DI PUBLIK: Wie könnten sie argumentieren?SCHULMEISTER: Sie hätten Folgendes belegen können: Schon seit den 1970er Jahren haben wir erklärt, warum freie Finanzmärkte systematisch manisch-depressive Preisschwankungen erzeugen, also eine Abfolge von „Bullen- und Bärenmärkten“ (anhaltend steigende bzw. fallende Märkte, Anmerkung der Redaktion). Daher war die Finanzkrise 2008 die Frucht des finanzkapitalistischen Systems: Gleichzeitig sind Immobilienpreise, Aktienkurse und Rohstoffpreise zusammengebrochen. Da aber dieses Argumentationsmaterial nicht entwickelt worden war, konnten die Neoliberalen die Krise paradoxerweise zu ihren Gunsten nutzen, indem sie den Sozialstaat und seine Verschuldung dafür verantwortlich machten.

Das war ein wichtiges Motiv für mich, mein Buch zu schreiben. Ich glaube, es wird wieder eine durchaus ähnliche Finanzkrise geben. Diesmal wäre es doch gut, wenn man schon vorher konkret und stammtischtauglich beschreiben könnte, wie sich diese Krise entwickeln wird, damit man nach der Krise darauf hinweisen kann, dass das bereits vorher erkennbar war und jetzt für die Zukunft systemisch bekämpft werden muss. VER.DI PUBLIK: Wie lange wird es noch bis zu der von Ihnen befürchteten Finanzkrise dauern?SCHULMEISTER: Zehn Jahre wird es sicher nicht mehr dauern. Ein wesentliches Element des Finanzkapitalismus ist, dass systematisch Unsicherheit geschaffen wird, über jene Unsicherheit hinaus, die dem Kapitalismus ohnehin eigen ist. Quantitative Prognosen, wann der Aktienkursverfall einsetzen wird, sind unmöglich. Man kann nur Preismuster prognostizieren. Ich mache seit ungefähr 30 Jahren Feldforschung auf den Finanzmärkten. Wenn Sie die Aktienkursentwicklung der letzten zehn Jahre betrachten, ist offensichtlich, dass die Kurse stärker gestiegen sind als vor der Finanzkrise 2008. Wenn Sie die Kurse der Staatsanleihen betrachten, dann sind sie auf einem Niveau, das es in der Geschichte noch nie gegeben hat. Und wenn man die Immobilienpreise betrachtet, nicht nur in den USA, sondern mittlerweile auch in Europa, dann ergibt sich auch dort ein Absturzpotenzial.

Die Sozialdemokratie wurde in den meisten europäischen Ländern zur Partei des kleineren Übels, die das Fähnchen hochhielt, wir sind auch für Reformen, aber sozial.

VER.DI PUBLIK: Was müsste man in Europa tun, um gegenzusteuern?SCHULMEISTER: Politisch muss die Sozialdemokratie erkennen und eingestehen, dass sie fundamentale Fehler gemacht hat. Sie hat vor etwa 30 Jahren mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 resigniert und gesagt: Wenn Du diesen Neoliberalismus nicht bekämpfen kannst, dann schließe Dich ihm an, aber gewissermaßen abgemildert. Die Sozialdemokratie wurde in den meisten europäischen Ländern zur Partei des kleineren Übels, die das Fähnchen hochhielt, wir sind auch für Reformen, aber sozial – ohne klar zu sehen, dass die Sparpolitik ein Hebel war, um aus einem vermeintlichen Sachzwang das europäische Sozialmodell langsam immer mehr zu schwächen.

Der zweite Aspekt ist, dass man eine klare, für jede bzw. jeden nachvollziehbare Erklärung braucht. Wenn man in die Geschichte zurückblickt und sich fragt, wann hat sich Gesellschaft wirklich nachhaltig verändert, dann waren es immer mehrere Faktoren, die zusammentrafen: eine schwere Krise, Beispiel der große Börsenkrach 1873, eine Erklärung der Krise – damals mit den Schriften von Marx und Engels – und eine Organisation der Interessen der Opfer der Krise auf Basis dieser Erklärung, Gründung der Arbeiterbewegung, der sozialdemokratischen Partei etc., also alles, was in den 1870er Jahren in Bewegung kam. Schon seit den 1950er Jahren haben meiner Ansicht nach die Führer der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie den Eindruck vermittelt, sie hätten gewonnen, den Sozialstaat nimmt uns niemand mehr weg, der ist gesichert. Eine verheerende Fehleinschätzung. VER.DI PUBLIK: Könnte Europa es schaffen, zum Sozialstaatsmodell zurückzukehren?SCHULMEISTER: Europa könnte in zehn Jahren absolute Vollbeschäftigung haben, ohne prekäre Jobs. Das klingt für die meisten Leute völlig utopisch, ist es aber nicht. Rein ökonomisch-technisch kann ich eine Massenarbeitslosigkeit schneller überwinden, wenn ich in großem Stil Projekte umsetze: zum Beispiel den Klimawandel konkret bekämpfen. Wenn der gesamte Gebäudebestand Europas in den nächsten zehn, 15 Jahren energetisch saniert würde, dann bräuchte man in Andalusien weniger Klimaanlagen und hätte in Nordeuropa weniger Heizkosten. So würden Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Das ist ein kleines Beispiel, wie man durch konkrete Projekte tatsächlich ein sozialeres, ökonomisch effizienteres und ökologischeres Europa schaffen könnte.VER.DI PUBLIK: Braucht man dazu nicht eine Art Anschubfinanzierung?SCHULMEISTER: Das ist überhaupt kein Problem. Da läuft ja gerade in Europa und durchaus nicht nur in irgendwelchen linken Kreisen die Idee der Green Bonds, der grünen Anleihen. Das ist nur ein Beispiel für Finanzierungsinstrumente, mit denen man mehr oder weniger aus dem Nichts Umweltprojekte finanzieren könnte.VER.DI PUBLIK: In Deutschland tritt die Regierung sehr vehement für eine Schuldenbremse ein. Ein Widerspruch?SCHULMEISTER: Das ist ökonomisch absolut unsinnig. Würde man einer jungen Familie, die sich ein Einfamilienhaus bauen möchte, sagen, ihr dürft keine Schulden machen, würde das Haus erst entstehen, wenn die Familie 30 Jahre lang angespart hat. Das ist geradezu grotesk. Aber der Staat soll das tun.

Die Schuldenbremse ist vielleicht das beste Beispiel überhaupt für die Notwendigkeit, die eigenen Denkfehler zu reflektieren. Die Schuldenbremse ist aus dem Einfluss neoliberaler Theorien entstanden. Vor 30 Jahren haben diese Eliten die neoliberalen Denkmuster „Der Markt macht alles richtig“ oder „Mehr privat, weniger Staat“ übernommen. Diese Fehlentwicklungen müssen die Eliten beider Volksparteien reflektieren, das geht nicht anders. Sonst werden sie weiterhin Rechtspopulisten Vorschub leisten, welche die berechtigten Gefühle von Vereinzelung, Wut und Verbitterung der Opfer des Neoliberalismus ansprechen. Die Eliten sind dazu nicht in der Lage, wenn sie nicht vorher ihre eigenen Fehler eingestehen.

Interview: Heike Langenberg


Der österreichische Ökonom Stephan Schulmeister, 71, hat von 1972 bis 2012 am Wirtschaftsforschungsinstitut WIFO in Wien gearbeitet. Forschungsschwerpunkte sind die längerfristige Wirtschaftsentwicklung und das Verhältnis der Real- zur Finanzwirtschaft. 2018 erschien sein Buch „Der Weg zur Prosperität“ (Ecowin-Verlag, Wals bei Salzburg, 480 Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3711001481)

„Der Realkapitalismus ist an seinem Erfolg zu Grunde gegangen.“

Die Sozialdemokratie wurde in den meisten europäischen Ländern zur Partei des kleineren Übels, die das Fähnchen hochhielt, wir sind auch für Reformen, aber sozial.