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Norbert Reuter leitet die tarifpolitische Grundsatzabteilung bei ver.diver.di

Ute Richter* freut sich. Sie hat eine Lohnerhöhung von fünf Prozent erhalten. Was auf den ersten Blick wie ein tolles Ergebnis aussieht, zeigt auf den zweiten ein grundlegendes Problem in Deutschland: Es ist nämlich die erste Gehaltserhöhung seit 13 Jahren! Ute arbeitet bei einem medizinischen Produktevertrieb im Rheinland und verdiente als ausgebildete medizinische Fachkraft von Beginn an 2.250 Euro brutto im Monat. Um allein laufende Preisstei-gerungen auszugleichen, hätte sie nach 13 Jahren rund 20 Prozent mehr verdienen müssen. So aber konnte sie sich von ihrem Einkommen immer weniger leisten. Und von der zwischenzeitlich gestiegenen Produktivität hat sie auch nichts abbekommen. Wenn die gestiegenen Preise und die höhere Produktivität berücksichtigt würden, müsste sie nach 13 Jahren gut 30 Prozent mehr verdienen, also eigentlich rund 2.950 Euro. Tatsächlich verdient sie aber – auch nach der nun erfolgten Gehaltserhöhung – nur gut 2.360 Euro. Immer noch ein Minus von fast 600 Euro.

Die Situation von Ute ist leider kein Einzelfall. Viele Betriebe in Deutschland sind wie der von Ute nicht tarifgebunden, einen Betriebsrat gibt es nicht. In Zeiten der Start-up-Unternehmen ist die Geschichte von Utes Firma fast symptomatisch: Gegründet wurde sie von zwei Studenten, erst vom Wohnzimmer aus betrieben, dann wurde ein eigener Firmensitz bezogen. Die Firma florierte, nach und nach wurden rund 100 Mitarbeiter*innen eingestellt, der Umgang miteinander ist locker, alle duzen sich. Gewerkschaftliches Engagement und Unterstützung wurde als überflüssig erachtet. Über Gehaltserhöhung wurde nie geredet. Es gab mal Ansätze, einen Betriebsrat zu gründen. Doch dann scheute man sich, das gute Klima zu stören, und die Ansätze verliefen im Sande. Doch mit der Zeit stieg der Unmut. In Zeiten des Facharbeitermangels kündigten Kolleg*innen und fanden besser bezahlte Beschäftigung anderswo. Das war dann wohl auch der Grund, warum die beiden Gründer nun allen Mitarbeiter*innen die erwähnte Gehaltserhöhung gewährt haben.

An diesem Beispiel zeigt sich, wie wichtig Tarifverträge sind. Nicht nur für die einzelnen Beschäftigten, sondern für die gesamte Situation in Deutschland. Nur noch für 56 Prozent der Beschäftigten in Westdeutschland und 46 Prozent in Ostdeutschland gilt ein Tarifvertrag, der ihre Einkommens- und Arbeitsbedingungen regelt. 1998 waren es noch 76 bzw. 63 Prozent. Die Statistik zeigt, dass Beschäftigte, für die ein Tarifvertrag gilt, erheblich profitieren. Denn die realen, also inflationsbereinigten Bruttolöhne in Deutschland insgesamt sind von 2000 bis 2018 je Arbeitnehmer*in um lediglich gut 8 Prozent gestiegen, während die realen Gewinne, also die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen, um 26 Prozent gestiegen sind. Bei den Tariflöhnen sieht das Bild deutlich besser aus: Diese sind im gleichen Zeitraum real um knapp 18 Prozent gestiegen. Würde also für alle Beschäftigten ein Tarifvertrag gelten, wäre die gesamte Einkommensentwicklung in Deutschland viel besser. Nicht nur wäre so eine Ursache der inzwischen allgemein beklagten skandalösen Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen beseitigt. Auch die Wirtschaft würde profitieren. Wegen der dann wieder stärkeren Binnennachfrage müssten Unternehmen nicht mehr so viele Produkte ins Ausland verkaufen. Wenn Deutschland dann weniger hohe Exportüberschüsse aufweisen würde, wäre auch ein wesentlicher Beitrag zur Überwindung internationaler Handelskonflikte geleistet.

Was für Ute im Kleinen gut wäre, wäre also auch für Deutschland im Ganzen gut. Deshalb ist auch die Politik in der Verantwortung. Tarifgebundene Firmen müssen etwa einen Vorteil haben, indem öffentliche Aufträge nur noch an sie vergeben werden – und nicht an den Billiganbieter von nebenan, der vielleicht gerade mal den Mindestlohn zahlt. Zudem muss die Möglichkeit, Tarifverträge per Gesetz für allgemeinverbindlich erklären zu lassen, verbessert werden. Dann müssten sich auch nicht tarifgebundene Firmen der Branche an die tariflichen Regelungen halten. Auch ver.di tut alles, um wieder für mehr Betriebe und ganze Branchen einen Tarif-vertrag abzuschließen. Aus diesem Grund wird die Organisation gerade umgebaut. Durch die Neuausrichtung kollektiver Betriebs-arbeit und individueller Gewerkschaftsarbeit sollen Hauptamtliche mehr Zeit und Raum für die betriebliche Betreuung bekommen. Ziel ist, dass auch Unternehmen wie Utes tarifgebunden werden. Damit sie und ihre Kolleg*innen nicht weitere 13 Jahre auf die nächste Lohnerhöhung warten müssen. *Name geändert

Die Statistik zeigt, dass Beschäftigte, für die ein Tarifvertrag gilt, erheblich profitieren