Ausgabe 01/2020
Kampf um Berlin
Der 13. März 1920 beginnt mit einem grauen Morgen: der Himmel stark bewölkt, die Temperatur um null Grad. Von Westen her nähern sich unter dem Befehl von Kapitän Hermann Ehrhardt 5.000 Freikorpssoldaten auf Lastwagen der Berliner Innenstadt, bewaffnet mit Maschinengewehren und Geschützen. Die Marinebrigade Ehrhardt besetzt im Regierungsviertel Straßenkreuzungen, Ministerien und Zeitungshäuser, hisst auf dem Brandenburger Tor die Reichskriegsflagge des einstigen Kaiserreichs. Gegen 7 Uhr betritt der ehemalige ostpreußische Landschaftsdirektor Wolfgang Kapp die Reichskanzlei in der Wilhelmstraße und wähnt sich als Reichskanzler einer neuen Regierung.
Die alte Regierung flüchtet
Große Teile der Nationalkonservativen und des Offizierkorps stehen der jungen deutschen Republik feindlich gegenüber, vor allem der Regierung, die von der verfassunggebenden Nationalversammlung 1919 ihre Legitimation erhalten hatte. Verschwörerkreise um Kapp verbünden sich mit Offizieren von Freikorps, die nach dem Versailler Friedensvertrag hätten aufgelöst werden müssen. Am Nachmittag des 12. März 1920 erhält das Reichskabinett die Nachricht, dass Generalleutnant Walther von Lüttwitz die Regierung stürzen wolle. Die Reichswehrführung gibt zu verstehen, dass sie sich den Putschisten nicht entgegenstellen werde: "Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr." Vor einer wahrscheinlichen Verhaftung durch die Putschisten flüchtet die Regierung zuerst nach Dresden, dann nach Stuttgart.
Den Putschisten in Berlin schließen sich im Land weitere Freikorps an und besetzen in mehreren Großstädten öffentliche Plätze.
Dieser Samstag ist vorerst ein gewöhnlicher Arbeitstag. In Berlin und anderswo fahren am frühen Morgen Arbeiter mit der Straßenbahn zu den Fabriken, Angestellte mit Autobussen zu den Geschäften und Büros. Ansammlungen von Militärs in der Stadt sind schon in der Vergangenheit keine Seltenheit mehr gewesen.
Der Generalstreik liegt in der Luft
Die von einem Militärputsch ausgehende Gefahr erkennt die Führung der Gewerkschaften sofort, sieht Errungenschaften der Revolution von 1918 gefährdet: das Koalitionsrecht, das Recht auf Tarifverträge und die Mitsprache durch das Betriebsrätegesetz. Carl Legien, der sozialdemokratische Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), trommelt noch am Vormittag alle in Berlin erreichbaren Funktionäre zusammen, auch die der Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände (AfA).
Das Wort "Generalstreik" liegt im ADGB-Haus am Engelufer 14/15 in der Luft. Aber einfach macht es sich diese Runde nicht. Ein Generalstreik wäre ein "politischer Streik", und den haben die Gewerkschaften in früherer Zeit abgelehnt. Aber heute ist die Ausgangslage anders. Die Erkenntnis "die deutsche Republik ist in Gefahr", bestimmt die Tonlage. Der ADGB-Vorsitzende Carl Legien und der AfA-Vorsitzende Siegfried Aufhäuser rufen zum ersten Generalstreik auf deutschem Boden auf. Der Christliche Gewerkschaftsbund schließt sich am 15. März dem Streikaufruf an, am 16. März der Beamtenbund. Landesweit legen nun 12 Millionen Beschäftigte die Arbeit nieder.
Alle Räder stehen still
Bereits am Samstagabend haben Arbeiter der Berliner Städtischen Elektrizitätswerke die Stromversorgung Berlins gedrosselt, Teile der Stadt liegen im Dunkeln. Nach und nach werden die anderen Kraftwerke bestreikt. Gestreikt wird auch bei den Gas- und Wasserwerken. Die Leitungen der Versorgungsunternehmen beauftragen Schüler und Studenten mit einem Notdienst, der nur unter Aufsicht von Soldaten in bescheidenem Umfang gelingt, aber dabei großen Schaden am technischen Equipment anrichtet. Auch bleiben Busse und Straßenbahnen in den Depots. Eisenbahner legen die Züge still. In den Telegrafen- und Telefonämtern unterbrechen Beschäftigte das Kommunikationsnetz. Am Montag stehen in vielen Fabriken alle Räder still.
Mit zivilem Ungehorsam reagieren zudem große Teile der Beamtenschaft in Verwaltung und Ministerien. Im Berliner Reichswehrministerium erscheinen am Montag die meisten Offiziere in Zivil. Sie nehmen die Order der Putschisten entgegen – und heften sie ab. Als Kapitän Ehrhardt in der Hauptkasse der Reichsbank erscheint und eine von Wolfgang Kapp unterzeichnete Zahlungsanweisung über 10 Millionen Reichsmark vorlegt, die Löhnung für seine Soldaten, erklären ihm die Bankbeamten, dass ihnen ein Reichskanzler Kapp unbekannt sei und sie deshalb auch nichts auszahlen werden.
Aber der Widerstand gegen die Putschisten ist gefährlich, lebensgefährlich. Am Sonntag treffen sich im Leipziger Volkshaus die Spitzen der Gewerkschaften und Arbeiterparteien und rufen zu einer Demonstration auf. Ein Demonstrationszug bewegt sich anschließend zum Augustusplatz. Mit den Putschisten verbündete sogenannte Zeitfreiwillige schießen dabei in die Menge. Sie töten und verletzen etliche Arbeiter.
Am zweiten Streiktag taucht ein Gesandter von Kapp beim ADGB auf und erklärt, die Militäraktion richte sich nicht gegen die Arbeiterschaft. Und: Am Kabinettstisch von Kapp seien auch Gewerkschafter denkbar, wenn sie den Streik abbrächen. Tatsächlich kommt es am 15. März zu einer Unterredung zwischen Kapp und Legien. Die Gewerkschafter geben dem Putschisten unmissverständlich zu verstehen, dass eine selbsternannte Regierung nie mit einer Akzeptanz der Gewerkschaften rechnen könne.
Der Schießbefehl
Daraufhin erlässt Kapp die Anordnung, derzufolge den Streikanführern wie auch Streikposten die Todesstrafe, die standrechtliche Erschießung drohte. Und die Freikorps-Soldaten machen damit Ernst. Sie treiben Demonstrationen und Versammlungen mit Gewehren und Handgranaten auseinander. Arbeiter im Tegeler Industrierevier, die sich einem Soldatentrupp entgegengestellt haben, werden erschossen. An anderen Orten Berlins schießen die Soldaten in Ansammlungen von aufgebrachten Bürgern und Streikenden; Dutzende von Toten und Verletzten liegen auf den Straßen. Wie viele Menschen insgesamt den Putschisten zum Opfer fallen, bleibt unbekannt.
Am 17. März erkennen die Putschistenführer Kapp und Lüttwitz ihren Misserfolg und flüchten. Doch der Streik geht weiter. Noch in den beiden folgenden Tagen schießen Militärs auf demonstrierende Arbeiter. Am 19. März stürmen bewaffnete Trupps das Volkshaus in Leipzig und brennen es nieder. Am folgenden Tag kommt es in Köpenick zu einer Schießerei zwischen Soldaten und bewaffneten Arbeitern; 24 Arbeiter werden standrechtlich erschossen.
Ende mit Unruhen
Die Gewerkschaften haben mit ihrem Generalstreik die Republik gerettet, bekennt Reichskanzler Gustav Bauer am 18. März 1920 in der Nationalversammlung. Mit neun politischen Forderungen über sozialpolitische Verbesserungen, die Durchsetzung von Sozialisierungen, die Bestrafung der Putschisten verhandeln die Gewerkschaften mit der Regierung. Teile der Gewerkschaften wollen mit dem Generalstreik eine reine Arbeiterregierung durchsetzen. Die am 20. März erreichten Zusagen von der Regierung fallen vage aus. Angesichts eines möglichen Bürgerkriegs beschließen die Gewerkschaften, den Generalstreik zum 23. März zu beenden. Enttäuschung bei der Arbeiterschaft macht sich breit, schlägt im Ruhrrevier und Teilen Mitteldeutschlands in bewaffnete Unruhen um. Sie werden vom Militär blutig niedergeschlagen.
Die Zeitung Die Gewerkschaft resümiert: "Der gewaltigste und erfolgreichste Generalstreik der Weltgeschichte". Sein wichtigstes Ziel hat er erreicht: Die Weimarer Republik ist gerettet.