Ausgabe 01/2020
Streiken bis die Rente bleibt
Frankreich im Januar. Auf Fußwegen stapeln sich nicht abgeholte Müllsäcke. Docker der Gewerkschaft CGT blockieren die Häfen, Ölarbeiter die Raffinerien. In Atomkraftwerken werden die Turbinen heruntergefahren. Gewerkschafter werden von der Polizei verhört, weil sie an strategischen Orten den Strom abgeschaltet haben. Die Abi-Prüfungen werden von Lehrer*innen, Schüler*innen und Eltern verhindert. Rechtsanwälte werfen demonstrativ ihre Roben vorm Justizministerium ab, Krankenschwestern ihre Kittel. Bei Demonstrationen spielt das streikende Opernorchester und tanzen die Ballerinas. Feuerwehrleute in Vollmontur liefern sich eine Straßenschlacht mit der Polizei. Bei jedem öffentlichen Auftritt eines Regierungsmitglieds wird dieses von Protestierenden ausgebuht. Im ganzen Land tobt der längste soziale Konflikt der letzten hundert Jahre.
Gegenstand des Zorns ist der geplante Umbau der französischen Rentenversicherung. Laut Frankreichs Präsident Emmanuel Macron geht es hingegen um "ein Projekt für soziale Gerechtigkeit und für den Fortschritt". Heißt das also, wie von Medien kolportiert, dass eine Minderheit der Beschäftigten an ihren überkommenen Privilegien festhalten will?
Im EU-Vergleich besonders gut
Franzosen und Französinnen haben gute Gründe, ihr bisher umlagefinanziertes Rentensystem verteidigen zu wollen. Im EU-Vergleich schneidet es besonders gut ab. Vor 50 Jahren lebte noch jede*r dritte Rentner*in in Armut, heute nur jede*r zehnte. In der Regel bedeutet das Ende des Erwerbslebens kein signifikantes Einbüßen des Lebensstandards. Das kommt unter anderem daher, dass der Beitragssatz der Beschäftigten zur Rentenversicherung fast 10 Prozent höher als in Deutschland liegt.
Sicherlich könnte das zugrundeliegende Solidaritätsprinzip Verbesserungen gebrauchen, vor allem für Frauen, die generell eine deutlich geringere Rente bekommen. Einen zwingenden Bedarf, das System von Grund auf zu verändern, gibt es aber nicht. Aktuell ist das Defizit der Rentenkassen nicht sonderlich dramatisch. Es beträgt lediglich 0,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts – was sich übrigens auf eine Senkung der Arbeitgeberbeiträge zurückführen lässt. Von einer strukturellen Unfinanzierbarkeit kann also keine Rede sein.
Doch die Regierung will das System "vereinfachen". Es gehe darum, die 42 existierenden verschiedenen Rentenregelungen durch ein einheitliches Verfahren zu ersetzen. Gern angeführt wird da das Beispiel des Pariser Busfahrers, der früher in Rente geht und mehr Leistungen erhält als sein Kollege aus der Provinz. Historisch waren die Sonderregelungen in öffentlichen Betrieben wie dem des öffentlichen Nahverkehrs, der Bahngesellschaft SNCF oder dem Stromkonzern EDF vereinbart worden, wo die Gewerkschaften bis heute mächtiger sind. Doch je mehr Arbeitsplätze abgebaut wurden, desto defizitärer sind manche dieser Kassen geworden, weil schlichtweg weniger Geld einfließt. Auch bestreitet niemand, dass das Rentenwirrwarr übersichtlicher werden sollte. Beschäftigte, die im Laufe ihrer Karriere von einem Rentenstatus zum anderen wechseln, können ihre gesamten Rentenansprüche nur schwer wahrnehmen. Doch wie man es auch wendet, bei allem kommt es darauf an, ob bei der geplanten Reform nach oben oder nach unten justiert wird.
Viel Wind um 1,4 Prozent der Beschäftigten
Um die Sonderfälle wird viel Wind gemacht, um über die allgemeine Regel zu schweigen. Letztendlich betreffen die 42 Einzelsysteme nämlich nur 1,4 Prozent aller Beschäftigten! Zählt man die speziellen Regelungen im öffentlichen Dienst dazu, kommt man auf 16 Prozent. Der Rest der arbeitenden Bevölkerung zahlt in die allgemeine Rentenversicherung ein. Doch auch für sie haben Macrons Reformpläne erhebliche Folgen. Heute wird ihre Rente auf der Basis der 25 besten Einkommensjahre errechnet. Künftig soll jeder Arbeitnehmer stattdessen Punkte sammeln. Jeder eingezahlte Euro soll Anspruch auf gleiche Leistung ergeben, so die Doktrin. Faktisch heißt das, dass Menschen, die in ihrer Laufbahn Lohnverbesserungen erzielen, eine deutlich geringere Rente bekommen werden.
"Für mich dürften es um die 30 Prozent weniger sein", schätzt eine Bankangestellte. Wie genau der Wert eines Punktes jährlich angepasst werden soll und ob er auch sinken könnte, bleibt im Nebel. Im "vereinfachten" System weiß niemand mehr, wie viel Rentenleistungen er letztendlich bekommen wird. Verständlicherweise wird hinter der Unklarheit böse Absicht gewittert. Zumal Macron nicht Macron wäre, wenn er von der "allgemeingültigen" Regel die Besserverdienenden nicht gleich ausgenommen hätte. Wer über 10.000 Euro Bruttolohn im Monat bezieht, soll zukünftig nur ein Zehntel der Beiträge einzahlen, die für alle anderen gelten. Auf diese Weise würden den Rentenkassen um die 5 Milliarden Euro pro Jahr entgehen. So viel zur finanziellen Sanierung.
Hinzu kommt, dass der Anspruch auf volle Rente in einem ersten Schritt auf ein Renteneintrittsalter von 64 Jahren angehoben werden soll. Das Mantra, mit dem in Frankreich für ein höheres Renteneintrittsalter argumentiert wird, kennt man in Deutschland schon zu Genüge: Da die Menschen immer länger leben, müssen sie auch länger arbeiten. Gegen diese scheinbare Gewissheit kommen von den Protestierenden überzeugende Argumente. Zu allererst erreichen Seniorinnen und Senioren gerade deswegen ein höheres Alter als früher, weil sie einen ausgedehnten Sonntag des Lebens genießen dürfen. Sie leben länger, weil sie weniger arbeiten.
Wer hingegen im Alter beschäftigt bleiben muss, wird häufiger krank. Eingesparte Rentenausgaben schlagen so in höhere Gesundheitskosten um. In Deutschland sagen laut jüngster DGB-Umfrage 40 Prozent der Beschäftigten, sie werden es nicht schaffen, ihre jetzige Tätigkeit bis zum Rentenalter fortzusetzen. Ohnehin trügt der statistische Mittelwert. Durchschnittlich sterben einkommensschwache Französinnen und Franzosen acht respektive 13 Jahre jünger als die Oberschicht. Und da sie früher in den Arbeitsmarkt eintreten, zahlen sie auch länger Beiträge ein und finanzieren so zudem noch die Rente der ohnehin Bessersituierten. Eine gleichmäßige Behandlung ist alles andere als gerecht.
Vom Arbeitstier zum Pflegefall
Während einer der vielen Demonstrationen erzählt ein pensionierter Kanalisationsarbeiter: "Meine ehemaligen Kollegen sind so wie ich mit 52 in Rente gegangen, heute sind sie alle tot. Da wir in diesem Beruf täglich Gift einatmen, ist das durchschnittliche Sterbealter 57. Für uns bedeutet die Reform: Krepieren bei der Arbeit." Doch auf Druck der Arbeitgeberverbände weigert sich die Regierung, das Renteneintrittsalter an Kriterien der Anstrengung zu knüpfen. Bedeutender als die Lebenserwartung ist tatsächlich die Gesundheitserwartung. In Frankreich beträgt sie 63 Jahre für Männer, 64 für Frauen, also ausgerechnet das vorgesehene Eintrittsalter in die Rente, was der rosigen Perspektive gleichkommt: vom Arbeitstier zum Pflegefall.
"Meine ehemaligen Kollegen sind so wie ich mit 52 in Rente gegangen, heute sind sie alle tot. Da wir in diesem Beruf täglich Gift einatmen, ist das durchschnittliche Sterbealter 57. Für uns bedeutet die Reform: Krepieren bei der Arbeit."
Pensionierter Kanalisationsarbeiter
Nicht erst seit gestern werden Rentensysteme durch die Alterung der Babyboomer-Generation belastet. Bisher konnten sie jedoch effektiv angepasst werden, und Lösungen mit gleichbleibendem Renteneintritt wären prinzipiell möglich. Und übrigens stimmt es auch nicht, dass wir immer älter werden. Seit einigen Jahren stagniert die Lebenserwartung in allen Industrieländern. Das Rentenproblem ist also kein demographisches. Es ist die Frage, wie Produktivitätsgewinne umverteilt werden.
Das Ziel der Reform, davon sind ihre Gegner*innen überzeugt, ist ein ganz anderes. Es geht primär darum, die Franzosen in eine kapitalgedeckte Altersvorsorge investieren zu lassen. Das entspricht der neuen neoliberalen Strategie. Formell werden staatlich regulierte Systeme beibehalten, doch dermaßen gedrosselt und unsicher gemacht, dass die Individuen selbst darauf kommen sollen, private Alternativen zu "wählen".
Mitten im Streik musste der Architekt der Rentenreform Jean-Paul Delevoye zurücktreten, weil er unter anderen Nebentätigkeiten seine Lobbyarbeit für die Versicherungsindustrie verschwiegen hatte. Für viel Aufsehen sorgte zudem ein Empfehlungspapier des weltgrößten Fondsverwalters BlackRock an die Regierung, in dem Anreizmaßnahmen vorgeschlagen werden, damit die Franzosen ihre Ersparnisse endlich in privaten Rentenversicherungen anlegen.
Warnungen der Gewerkschaften ignoriert
Die Macron-Regierung zweifelt nie daran, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein. Wer ihr widerspricht, habe einfach nicht richtig verstanden. Zwei Jahre lang arbeitete die Rentenkommission ihren Entwurf aus, ohne auf die Warnungen der Gewerkschaften zu hören. Stattdessen wurde eine frontale Konfrontation in Kauf genommen. Am 5. Dezember 2019 fing ein unbefristeter Streik der Eisenbahner und Metrofahrer an. Dazu stießen Lehrer*innen, die Müllabfuhr, Beschäftigte in Strom- und Gaskonzernen und andere. Feuerwehr und Krankenhauspersonal waren ohnehin bereits seit Monaten für bessere Arbeitsbedingungen im Streik. Am 5. Dezember demonstrierten über eine Million Menschen. Aufgerufen hatte ein Zusammenschluss fast aller Gewerkschaften mit Ausnahme der CFDT, die alle bisherigen "Reformen" mitgestaltet hat. Sie hoffte noch, ihren konstruktiven Kompromissvorschlag durchsetzen zu können, sie ist für das Punktesystem, doch gegen die Rente mit 64. Da sie aber weiterhin auf taube Ohren stieß, schloss sie sich am 11. Dezember dem Protest halbherzig an.
So unbeugsam sich die Regierung gab, schnell begann sie doch zu schwächeln. Als die Polizisten anfingen zu murren, versicherte ihnen der Innenminister, dass ihre bisherige Pensionsregelung beibehalten werde. In jenen Tumultwochen durfte ihre Unterstützung ja nicht fehlen. So wurde implizit zugegeben, dass das neue System doch nicht so vorteilhaft ist. Als dann die LKW-Fahrer, die Flugbegleiterinnen und die Hochseefischer jeweils drohten, sich dem Kampf anzuschließen, wurde ihnen eilig zugestanden, sie seien ebenfalls vom "allgemeingültigen" Reformprojekt ausgenommen. Ein Generalstreik musste auf Biegen und Brechen abgewendet werden. Im Klartext: Wer stören kann, wird bedient – ein deutlicher Ansporn, weiterzukämpfen.
Noch vor Beginn des Konflikts hatte sich in branchenübergreifenden Versammlungen die Parole verbreitet: "Der Streik den Streikenden!" Da das Ziel die komplette Rücknahme des Reformprojekts ist, gab es für die Gewerkschaftsvorstände nichts zu verhandeln. Es zählt allein das Kräfteverhältnis, und dafür waren und sind die Protestierenden an Ort und Stelle zuständig. Gegen die Anweisungen ihrer Leitungen streikten Eisenbahner der CFDT und der UNSA weiter.
Die Vergelbwestung
Derzeit ist oft von einer "Vergelbwestung" der Basis die Rede. Im vorangegangenen Jahr haben die Gelbwesten gezeigt, dass mit Spontaneität, Ungehorsam und Unberechenbarkeit mehr erreicht werden kann als mit verstreuten, rituellen Aktionstagen. Zwischen dem 17. Dezember 2019 und dem 9. Januar 2020 war von den Dachverbänden kein Protesttag geplant. Dennoch fanden tagtäglich spontane Demonstrationen, Blockaden und Besetzungen statt, an denen Gewerkschafter, Gelbwesten, Studierende und sonstige Bürger*innen gemeinsam teilnahmen. Die Regierung hatte darauf gesetzt, dass sich die Bewegung totlaufen würde, stattdessen breiteten sich die Wellen des Zorns aus.
Am 11. Januar erklärte sich Premierminister Philippe bereit, falls die Sozialpartner eine alternative Finanzierung vorschlagen könnten, auf das Eintrittsalter mit 64 "vorübergehend" zu verzichten. Ein durchschaubarer PR-Coup: Unverändert bleibt dabei eine andere Stelle im Gesetz, die eine allmähliche Anhebung des Rentenalters vorsieht. Doch der CFDT genügte das Manöver, um einen siegreichen Kompromiss zu feiern. Infolgedessen wurde die CFDT-Zentrale kurzzeitig besetzt, und Tausende gaben ihren Mitgliedsausweis zurück. Die Medien konnten jetzt behaupten, nur noch "Extremisten" kämpften weiter, zumal die finanzielle Not der Streikenden begann, spürbar zu werden. Nach 45 Tagen Streik stimmten die meisten Metrofahrer und Eisenbahner für die "provisorische" Wiederaufnahme ihrer Arbeit. Solidarische Online-Streikkassen reichten wohl nicht, um den Lohnausfall zu begleichen.
Die Lahmlegung des Landes blieb aus, stattdessen wird nach gezielten Aktionen, sporadischen Arbeitsniederlegungen und medienwirksamen Protestformen gegriffen. An den sukzessiven Aktionstagen ebbt die Mobilisierung nicht ab, obwohl die Polizei systematisch Tränengas und Schlagstöcke einsetzt.
Zwei Drittel fordern Rücknahme
Laut Umfragen wünschen zwei Drittel der Franzosen nach wie vor die Rücknahme des Gesetzes. Die Gründe dafür werden immer mehr. Ende Januar hat der Conseil d'État, das oberste Verwaltungsgericht und Beratungsgremium der Regierung, einen vernichtenden Bericht veröffentlicht, in dem der Entwurf als unübersichtlich und lückenhaft auseinandergenommen wird. Darin finden sich sämtliche Vorwürfe bestätigt, die seit Wochen auf der Straße erhoben werden. Sogar die Verfassungsmäßigkeit des Projekts wird angezweifelt. Nichtsdestotrotz betont das Kabinett seine Entschlossenheit, das Gesetz inkrafttreten zu lassen, und wenn es sein muss, per Dekret über das Parlament hinweg.
Obgleich der Gesetzentwurf alle Beschäftigten in ihrem Unmut vereint, er ist bei weitem nicht der einzige Beschwerdegrund. Oft erzählen Krankenschwestern oder Lehrerinnen, die Aussicht auf Rente sei ihre einzig übriggebliebene Motivation, nachdem ihre Arbeitsbedingungen durch Etatkürzungen so erbärmlich geworden seien. Wie bei den Gelbwesten-Protesten wird während Demonstrationen ein System angefochten, das menschliche Existenzen auf dem Altar der Rentabilität und Gewinnmaximierung opfert. Die sture Ignoranz der Regierung, die ihre Agenda mit repressiven Mitteln durchzusetzen versucht, wird immer weniger akzeptiert.
Akuell wird das Gesetz in beiden Kammern des Parlaments debattiert. Anfang des Sommers soll es definitiv verabschiedet werden. Bis dahin dürfte noch Einiges passieren.