Ausgabe 02/2020
Agil zum Ziel sprinten
Immer mehr Bedeutung erlangt seit einigen Jahren "agiles Arbeiten", eine besondere Form der Teamarbeit, die nicht mehr nur in IT-Firmen, sondern in vielen Abteilungen großer Unternehmen angewendet wird. Der ver.di-Bereich Innovation und Gute Arbeit hat im Rahmen des Verbundprojektes diGAP (Gute agile Projektarbeit in der digitalen Welt) Ideen entwickelt, wie diese Arbeitsmethode gestaltet werden sollte, um Belastungen abzubauen.
Unter idealen Bedingungen müsste agile Projektarbeit so ablaufen: Ein sehr gut geschultes und aufeinander eingespieltes Team arbeitet gemeinsam, ohne Chef und in enger Abstimmung mit dem jeweiligen Auftraggeber. Bei der agilen Methode "Scrum" werden Arbeitsziele durch das Team für relativ kurze Projektphasen von zwei bis vier Wochen ("Sprints") definiert und danach mit dem Auftraggeber zusammen überprüft. Das Team besteht aus sechs bis zehn Mitgliedern, die klar definierte Rollen haben: Für den Rahmen und die Einhaltung der Methode ist der/die Scrum-Master zuständig, die Entwicklung der Produktidee und die Verbindung zum Kunden übernimmt der/die Product-Owner. Die übrigen Teammitglieder sind die Fachexpert*innen für den Auftrag. Entscheidend für gute agile Projektarbeit ist, dass das Team seinen Weg zum Ziel findet, ohne Druck von außen zu bekommen. Schließlich muss es auch genügend Zeit für ein Projekt haben.
In der Praxis klaffen jedoch Anspruch und Wirklichkeit auseinander. "Den Grundansatz dieser Arbeitsmethode begrüßen wir. Leider hapert es noch an entscheidenden Punkten bei der Umsetzung", sagt Frank Duckwitz, Betriebsratsmitglied in der Commerzbank-Zentrale und dort unter anderem für agiles Arbeiten in den Abteilungen der Projekt- und Prozessentwicklung sowie -betreuung zuständig. Zwei große Probleme gebe es: Die Unternehmensleitung übe Druck auf die agil arbeitenden Teams aus, weil sie Ergebnisse sehen wolle. Und die Teammitglieder hätten nicht genug Zeit, das nicht-hierarchische Arbeiten und selbstbestimmte Entscheiden einzuüben. "Wenn diese Arbeitsmethode klappen soll, müssen alle umlernen", meint Frank Duckwitz. "Wer sich bisher darauf verlassen hat, dass Vorgesetzte Entscheidungen treffen, muss nun selbst Verantwortung übernehmen. Und die, die von sich aus gerne den Ton angeben, sollen lernen, im Team auch auf andere zu hören."
Seit gut sieben Monaten arbeiten ungefähr 4.500 von 12.000 Beschäftigten der Commerzbank-Zentrale nach agilen Methoden. Der Rahmen dafür wurde von Arbeitgeber- und Betriebsratsseite gemeinsam gestaltet. "Im Sommer 2018 kam der Vorstand mit der Idee auf uns zu", so Frank Duckwitz. Der Betriebsrat habe so die Möglichkeit gehabt, von Anfang an Einfluss zu nehmen. In einer Testphase übten Beschäftigte auf freiwilliger Basis die agile Projektarbeit ein. Ihre Erfahrungen gingen in die 2019 abgeschlossene Betriebsvereinbarung ein. "In den Testteams wurde die Vertrauensarbeitszeit erprobt, die sich aber nicht bewährt hat. Nun gilt für die agilen Teams wieder die übliche Gleitzeitregelung, sodass Personalengpässe eher sichtbar werden", sagt Frank Duckwitz. Und solche Engpässe gibt es: Scrum-Master sollen etwa mehrere Teams betreuen, was nicht zur Idee der agilen Arbeit passe. Es müssten dringend mehr Beschäftigte entsprechend qualifiziert werden; Bewerber*innen für diese Aufgabe gebe es genug, so Duckwitz.
Mehr Partizipation
Vergleichbare Erfahrungen wie die Commerzbank-Arbeitnehmer*innen machen auch rund 1.500 Beschäftigte bei der Telekom-IT, die seit 2017 agil arbeiten. "Der Arbeitgeber erhofft sich mehr Effizienz durch diese Arbeitsmethode, die Beschäftigten mehr Partizipation", sagt Thomas Frischkorn, Sprecher des Arbeitskreises Agilität im Gesamtbetriebsrat der Deutschen Telekom-IT, die 2017 aus der T-Systems als Dienstleister für die interne IT ausgegründet worden ist.
Bei einer jüngst abgeschlossenen Beschäftigtenbefragung von 15 agil arbeitenden Teams im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung kam zudem heraus, dass eine unternehmensweite Entscheidung der Telekom die Arbeit im Scrum behindert: der Abbau von Büroarbeitsplätzen. Mit diesem Schritt will das Unternehmen einen dreistelligen Millionenbetrag einsparen, da weniger Schreib- tische vor allem weniger Bürogebäude, Mieten und Betriebskosten bedeuten. "Die agilen Teams benötigen aber Räume, in denen sie zusammenkommen und ihre Projekte planen können", so Thomas Frischkorn. Als weiteres Problem nennt er die Arbeitsintensität. Die Beschäftigten arbeiten zwar ohne erkennbare Hierarchie, neigen aber dazu, sich zu immer höheren Leistungen anzutreiben.
Nadine Müller aus dem ver.di-Bereich Innovation und Gute Arbeit fasste Ende Januar bei der Abschlusstagung des diGAP-Projektes dazu Ergebnisse einer Beschäftigtenbefragung vor allem in der Softwareentwicklung zusammen: "Ein hoher Anteil von 56 Prozent der agil Arbeitenden steht bei der Arbeit oft unter Zeitdruck." Die Mehrzahl der Befragten leiste Mehrarbeit. Beides trifft aber auch auf nicht agil Arbeitende zu. Positiv bewerteten die agil Arbeitenden, dass sie sehr produktiv "hinsichtlich Leistung des Projektteams, Termintreue, Qualität der Lösung und des Kundenfeedbacks" arbeiten könnten. 64 Prozent der agil Arbeitenden fanden, dass sie mit dieser Methode "die Möglichkeit zu mehr selbstbestimmter Arbeit" hätten.
Im Verbundprojekt diGAP, an dem neben ver.di verschiedene wissenschaftliche Einrichtungen und Firmen beteiligt waren, werden nun bis zum Herbst die Projektergebnisse aufbereitet. "Wichtig sind Freiräume für die agil Arbeitenden", sagt Christian Wille vom Bereich Innovation und Gute Arbeit. "Auch für Betriebs- und Personalräte ist agile Projektarbeit eine Herausforderung, denn Mitbestimmung und Schutzrechte der Beschäftigten müssen dafür weiterentwickelt werden." Ein Leitfaden mit Empfehlungen ist gerade veröffentlicht worden.
Die Dokumentation der Abschlusstagung und Empfehlungen für tarifliche und betriebliche Regelungen gibt es im Internet: diGAP.verdi.de