Ausgabe 03/2020
Ein Dankeschön ist zu billig
So intensiv waren die Scheinwerfer noch nie auf den Handel gerichtet. Starke Anerkennung für die Schwerstarbeit an den Kassen, im Verkauf und beim Warentransport – das war längst überfällig.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der Handels- und Technologiekonzern Amazon als einer der großen Profiteure aus der Corona-Krise hervorgehen. Im ersten Quartal ist sein weltweiter Umsatz um 22 Prozent auf 73 Milliarden Dollar gewachsen. Haushaltsgüter werden vorrangig ausgeliefert, denn die Kapazitäten reichen nicht für alles zugleich. Schon spekuliert eine US-Investmentbank, dass der Unternehmenswert sich bis 2023 auf zwei Billionen Dollar verdoppeln könnte.
Die Umsatzsprünge setzen die sozialen Standards weltweit unter Druck. In Deutschland starteten die Vertrauensleute in den Versandzentren Anfang April eine Online-Umfrage, die Alarmierendes zutage brachte. So sei es unmöglich, den notwendigen Sicherheitsabstand einzuhalten. Auch die Reinigung von Arbeitsmitteln und Sozialräumen wird als oft mangelhaft beschrieben. "Unsere Gesundheit kommt an erster Stelle!", sagen die ver.di-Aktiven. Sie fordern mehr Pausen und mehr Wertschätzung durch Entlohnung nach Einzelhandelstarifvertrag. Die aktuelle Zulage von zwei Euro pro Stunde müsse unbefristet weiter gezahlt werden.
Covid-19-Fälle
Wie dringlich es ist, prekäre Bedingungen zu stoppen, zeigt die hohe Zahl an Covid-19-Infektionen im südlich von Hamburg gelegenen Versandzentrum Winsen/Luhe. Dort waren am 23. April bereits 68 der rund 1.800 Beschäftigten erkrankt.
Ärger gibt es auch in den USA. Seit Ende März ist es in Staten Island (New York) im Verteilzentrum "JFK8" mehrfach zu Streiks gegen Mängel beim Gesundheitsschutz gekommen. In Frankreich haben Gerichte im April entschieden, dass Amazon nur noch Hygiene- und Medizinprodukte sowie Lebensmittel ausliefern darf. Verbunden ist das mit der Auflage, für bessere gesundheitliche Sicherheit zu sorgen.
Negative Schlagzeilen und Imageprobleme hindern nicht an der Jagd nach Umsatzanteilen. In Deutschland sorgen der digitale Platzhirsch Amazon und andere Konzerne dafür, dass der Verdrängungswettbewerb noch härter wird. Die wichtigsten Instrumente sind bekannt: Druck auf die Personalkosten, Preisschlachten, immer extensivere Öffnungszeiten.
Branche unter Druck
Noch kann niemand die genauen Folgen der Corona-Krise abschätzen. Doch starken Konsumverzicht und "Marktbereinigung" sagen viele Wirtschaftsexperten voraus. Und schon jetzt ist die Lage zum Teil katastrophal: In Bangladesch und Indien stehen zigtausende Textilarbeiterinnen wegen Fabrikschließungen auf der Straße.
Wegen starker Verluste durch die angeordneten Ladenschließungen in der hiesigen Textilbranche sowie bei den Warenhäusern haben sich bis Anfang Mai Esprit, Galeria Karstadt Kaufhof, Hallhuber, Sinn und Appelrath Cüpper in "Schutzschirmverfahren" begeben. Ziel dieser speziellen Insolvenzverfahren ist die Sanierung in Eigenregie.
Bei Galeria Karstadt Kaufhof spielt der starke Ausbau von Online eine große Rolle. Welche Chancen sich hier kurz- und mittelfristig ergeben, ist nicht eindeutig, wenn man die Zahlen des Bundesverbandes E-Commerce für das erste Quartal anschaut. Danach lagen die Umsätze um fast 20 Prozent unter Vorjahresniveau, bei Bekleidung sogar 35 Prozent im Minus. "Die Corona-Krise treibt neue Kunden ins Internet", stellt die Beratungsfirma Kearney dennoch fest.
Von einem Siegeszug des digitalen Handels im laufenden Jahrzehnt geht das Institut für Handelsforschung (IFH) in einer neuen Studie aus. Bis zu 64.000 stationäre Händler seien bedroht, darunter auch Filialisten mit Onlineshop. Das Ladensterben in den Innenstädten laufe aufgrund der aktuellen Entwicklung eventuell sogar im Zeitraffer ab.
Die "Gemeinsam-geht-alles"-Slogans der Arbeitgeber klingen im Handel ohnehin wie eine Farce: Eine von ver.di vorgeschlagene allgemeinverbindliche Tarifregelung, um das Kurzarbeitergeld auf mindestens 90 Prozent aufzustocken, lehnten ihre Verbände kürzlich ab. Bei Primark, H&M, Ikea, Zara (100 Prozent) und anderen gelang den Betriebsräten eine solche Anhebung. Der Einzelhandelsverband HDE legte nach und schlug vor, die ab diesem Frühjahr zu zahlende Tariferhöhung von 1,8 Prozent zu verschieben. Dieser und ein weiterer Vorstoß provozierten heftigen Widerspruch von ver.di. So verlangen die Händler, die Ladenöffnungszeiten freizugeben – einschließlich der Sonntage.
Tarifverträge für alle
"Der HDE zeigt sich als Trittbrettfahrer der Krise und will alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen", sagt ver.di-Vorstandsmitglied Stefanie Nutzenberger. "Längere Öffnungszeiten bringen weder mehr Umsatz, noch sichern sie Arbeitsplätze. Sie heizen den Verdrängungswettbewerb zusätzlich an."
Auch das macht die ver.di-Forderung nach Tarifverträgen, die für alle Unternehmen der Branche verbindlich sind, aktueller denn je. Dafür hat sich erneut auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ausgesprochen. "Applaus und Merci-Schokolade für Verkäuferinnen reichen nicht aus," sagte er treffend in einem Interview.
In einer der wichtigsten Versorgungsbranchen bekommen nach Angaben der Bundesregierung fast eine Million Menschen Niedriglöhne, nur etwas mehr als ein Drittel arbeiten noch tarifgebunden. Die existenziell bedrohliche Situation vieler wird durch Shutdown und Kurzarbeit noch prekärer. Stefanie Nutzenberger: "Die öffentliche Wertschätzung für die Handelsbeschäftigten muss praktische Konsequenzen haben. Sie brauchen dringend allgemeinverbindliche Tarifverträge und Tarifregelungen für wirksamen Gesundheitsschutz."