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Norbert Blüm in seiner Bonner Wohnung im Oktober 2017Foto: Hannes Jung/laif

Bevor Wellen des Mitleids und vielstimmigen Bedauerns sich über ihn ergießen würden, wollte er lieber selbst Herr der Nachrichtenlage bleiben: Norbert Blüm. Der stets quicklebendige Elder Statesman der deutschen Sozialpolitik, gab am 12. März mit einem Gastbeitrag in der Wochenzeitung Die Zeit persönlich Auskunft über seinen Befund und sein Befinden. Nach einer Blutvergiftung sei er an Armen und Beinen gelähmt, berichtete er, der Rollstuhl sei "der Standort, von dem aus ich die Welt jetzt betrachte". Aber die nach vielen Monaten in der Klinik neu gewonnene Kraft, die "große Willensanstrengung", mit der er zuletzt seinem Körper fast jeden Atemzug abringen musste, haben am Ende nicht mehr gereicht zum Leben. Am 23. April 2020 ist Norbert Blüm, der Gewerkschafter, Politiker und Vorkämpfer für die Menschenrechte, im Alter von 84 Jahren in Bonn gestorben.

Metaller mit Doktortitel

Dem Arbeiterkind Norbert Sebastian Blüm, geboren vier Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkriegs in Rüsselsheim am Main, war der Zugang zu höherer Bildung zunächst verschlossen geblieben. Also besuchte es bis 1949 die Volksschule. Er wurde Messdiener und Pfadfinder und trat 1949 eine Lehre als Werkzeugmacher an – bei der Adam Opel AG, wo er auch zum Jugendvertreter gewählt wurde, 1950 der Industriegewerkschaft Metall beitrat und zunächst viele Jahre im erlernten Beruf arbeitete.

Über den zweiten Bildungsweg holte der schon länger auch in der CDU und den Sozialausschüssen der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) engagierte Jung-Politiker 1961 am Abendgymnasium das Abitur nach. Dem folgte – mit Unterstützung der gewerkschaftlichen Stiftung Mitbestimmung (heute: Hans-Böckler-Stiftung) – ein Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Theologie in Bonn, u.a. bei dem nachmaligen Kardinal Joseph Ratzinger und späteren Papst Benedikt. Im Jahre 1967 schloss der gelernte Metallfacharbeiter seine Doktorarbeit ab.

Ein Jahr später avancierte Blüm zum Hauptgeschäftsführer des Arbeitnehmerflügels der Union und 1977 zum CDA-Bundesvorsitzenden. 1972 wurde er erstmals in den Bundestag gewählt. Zehn Jahre später platzte nach 13 Jahren die sozialliberale Regierungskoalition aus SPD und FDP, und der neue Bundeskanzler Helmut Kohl berief den ambitionierten Gewerkschafter als Arbeits- und Sozialminister in sein erstes schwarz- gelbes Kabinett. Norbert Blüm sollte in der Folge der einzige Minister sein, der der Regierung vom Beginn der Kanzlerschaft Kohls bis zu ihrem Ende 1998 angehörte.

Mit seiner Berufung zum Minister begann für ihn auch eine 16 Jahre dauernde Gratwanderung zwischen Katholischer Soziallehre und seinen gewerkschaftlichen Überzeugungen und den teils diametral gegenteiligen Forderungen des Wirtschaftsflügels der eigenen Partei und den wirtschaftsliberalen Vorstellungen des Koalitionspartners FDP.

Gegner mit Respekt

Zu Blüms wichtigstem Gegenspieler in der sozialdemokratischen Opposition wurde mit den Jahren der Bundestagsabgeordnete Rudolf Dressler. Der Schriftsetzer und langgediente Betriebsratsvorsitzende aus Wuppertal, zuvor Parlamentarischer Staatssekretär in dem Ministerium, das Blüm nun leitete, wurde sozialpolitischer Sprecher der SPD, war Bundesvorsitzender der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) und leidenschaftlich engagiert in der Industriegewerkschaft Druck und Papier. Dressler sagt heute über seinen langjährigen Freund: "Wir beide haben uns in 20 Parlamentsjahren nichts geschenkt. Aber trotz mancher Härte und Schärfe in der Sprache hat es nie an gegenseitigem Respekt gemangelt, Respekt vor den Grundsätzen, Respekt vor der Persönlichkeit."

Es hat auch mal geknirscht

Hauptsächlich diesem Spiel über Bande zwischen Blüm und Dressler, ihrer Übereinstimmung in Grundüberzeugungen, ist es wohl zu danken, dass es ihnen gelang, heftige Angriffe auf den Sozialstaat abzuwehren, die bereits in den 1980er und 1990er von interessierter Seite vorgetragen wurden. Und auch sozialpolitischen Fortschritt durchzusetzen wie etwa die gesetzliche Pflegeversicherung, die – bei mancher Unzulänglichkeit – für immer mit dem Namen des Sozialpolitikers Norbert Blüm verbunden bleiben wird.

Detlef Hensche, der langjährige Vorsitzende der ver.di-Gründungsorganisation IG Medien, bestätigt: "Natürlich gab es Konflikte, etwa als Norbert Blüm als Arbeitsminister 1985 den ersten, folgenreichen Schritt tat, die Befristung von Arbeitsverträgen ohne sachlichen Grund zuzulassen. Doch das tut dem Respekt vor dem Sozialpolitiker und engagierten Menschen Norbert Blüm keinen Abbruch." Blüm habe für die Idee einer solidarischen Gesellschaft gebrannt und zeitlebens zu seiner Überzeugung gestanden: "Auch als der Wandel des Zeitgeistes nicht nur seine eigene Partei ergriff", so Hensche weiter, "sondern auch die rot-grüne Koalition ermunterte, an wesentliche Elemente sozialstaatlicher Sicherung Hand anzulegen, ist Norbert Blüm sich treu geblieben – und hat Recht behalten."

Für Elke Hannack, die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), war Norbert Blüm immer ein Vorbild. Hannack, studierte Theologie wie Blüm, war Supermarktkassiererin und Gesamtbetriebsratsvorsitzende sowie – vor ihrer DGB-Zeit – Mitglied des ver.di-Bundesvorstands. Sie gehört der Christen-Union an, dem CDU-Bundesvorstand und ist stellvertretende CDA-Bundesvorsitzende. Für sie war Norbert Blüm ein "aufrechter Politiker und lieber Kollege", der keiner Konfrontation aus dem Weg gegangen sei und sich kritisch mit seiner Partei und auch mit der Kirche auseinandergesetzt habe. "Das hat er ab und zu auch zu spüren gekriegt." Blüm sei "praktisch und unkompliziert" gewesen. "Wenn er Material zu ver.di-Themen brauchte, weil er auch im Ruhestand viel auf Podien unterwegs war, rief er mich einfach an und fragte, ob ich ihm was zusammenstellen könne. Er hatte unglaublich viel Humor, und er konnte auch über sich selbst lachen."

Die Rente ist sicher

Ihn noch lange überleben wird sein berühmtestes Zitat aus dem Jahre 1986: Die Rente ist sicher. Dafür hat er viel Spott geerntet. Unvergessen ist aber auch sein Auftritt in der ZDF-Satiresendung "Die Anstalt" vom 11. März 2014 unter dem Motto "Private Vorsorge einfach erklärt", in der Blüm sich beschwerte, er habe für diesen Spruch "20 Jahre im Kabarett was auf die Fresse gekriegt". Unter stehenden Ovationen des Studiopublikums kündigte er an: "Jetzt schlage ich zurück!" Wie? Das ist zu sehen unter:

kurzlink.de/ykttZyvUi ab Minute 5:30.