Ausgabe 05/2020
"Bildung kann Folgen haben"
ver.di publik: Du bist mitten im Corona-Lockdown ausgeschieden, es gab keinen Abschiedsempfang, kein Händedrücken, keine Umarmungen, keine Blumen. Ganz anders als gewohnt bei ver.di. Wie war das für dich?
Gerhard Abendschein: Das war schon merkwürdig. Aber ich habe mich damit arrangiert.
ver.di publik: Gehen wir auf Anfang. Wie kamst du zur Gewerkschaft? Du bist nicht klassisch aus dem Betrieb rekrutiert, wie damals üblich.
Abendschein: Wie andere aus meiner Generation kam ich über die Bildungsarbeit. Es waren die 80er Jahre, ich wurde in der Studierendenvertretung politisiert. Dann habe ich mich mit Ökologie und Geschichte beschäftigt, vor allem mit der Sozialgeschichte der Arbeiter*innenbewegung. Wir wollten wissen, wie Widerstand funktioniert. Irgendwann habe ich im Haus der Gewerkschaftsjugend in Oberursel Seminare gegeben oder in der hessischen Jugendbildungsstätte Dietzenbach. Es waren oft Gewerkschafter da, und so kam ich zur Jugendarbeit bei der ÖTV.
ver.di publik: Du hast dich über die Auseinandersetzung mit Geschichte politisiert und so auch in den Beruf gefunden. Können Bildungserfahrungen heutzutage noch ähnlich prägend sein, speziell im gewerkschaftlichen Umfeld?
Abendschein: Ich halte es für möglich, dass Bildung Folgen hat, aber es ist nicht zwangsläufig. Menschen, die mit Bildung konfrontiert werden, entscheiden bis zu einem bestimmten Grad selbst, was sie daraus machen. Es hat sich aber auch verändert. Die gewerkschaftliche Bildung, mit der ich gestartet bin, war noch sehr schulisch geprägt, da ging es um Inhalte, es wurde gelernt. Inzwischen funktioniert Bildung anders, nämlich ganz einfach. Du kannst versuchen, Angebote zu machen, ob und was die Leute mitnehmen, ist ihre Sache. Letztendlich entscheiden sie darüber selbst.
ver.di publik: Erklärt das auch das Phänomen der Verschwörungstheorien?
Abendschein: Ich konnte nur Gewerkschaftssekretär sein, weil ich die Menschen auch mag. Und ich glaube, Menschen müssen sich die Welt erklären, weil sie nicht in der Lage sind, sie in ihrer Totalität zu erfassen. Dann ist es doch gescheit, das möglichst einfach zu gestalten. Leider kommen dabei die krudesten Sachen raus. Wie kann man zum Beispiel antisemitisch sein, wenn man nur ein bisschen was im Hirn hat? Ich tröste mich dann damit, dass es auch andere Menschen gibt.
ver.di publik: Das klingt ernüchtert. Du bist doch mit einer Utopie gestartet, damals. Wo ist die?
Abendschein: Meine Generation ist 1989 in ein emotionales Loch gefallen. Dieser realsozialistische Scheiß war zwar nicht meine Utopie, aber ich habe mit vielen anderen seit damals doch sehr gezweifelt, ob Utopien überhaupt einen Sinn machen. Jetzt gibt es utopische Momente. Was gehört zum Beispiel zu einer Gewerkschaft? Renitenz. Auch Demokratieverhalten ist für mich so etwas. Ich persönlich habe bei Corona keine ordnenden Beiträge von Gewerkschaften wahrgenommen. Man hätte durchaus was dazu sagen können. Gewerkschaft als ein zivilgesellschaftlicher demokratiefördernder Akteur, das ist allemal ein utopisches Moment für mich. Aber die ganz große Utopie muss man mit Mitte 60 nicht mehr haben. Jetzt können die Jungen überlegen, wo sie hinwollen. Wir hatten unsere Chance und haben sie nicht gut genutzt. Jetzt können sie es besser machen. Hoffentlich.
Eine lange Version des Interviews gibt es auf hessen.verdi.de.