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Foto: Alessandra Schellnegger/SZ Photo

Die obersten Manager von Wirecard haben Bilanzen gefälscht, Märkte manipuliert und Geschäfte zu Milliardengrößen aufgebläht. Im Juni meldete der Finanzdienstleister Insolvenz an. Etliche Tochterunternehmen im Ausland wurden verkauft. Arbeitsplätze gingen verloren. Auch in Deutschland. Die Angestellten im Service, im Verkauf, in der Software-Entwicklung, in der Bank und den IT-Systemen sind unverschuldet in den Betrug ihrer Vorstände hineingeraten, sie sind Opfer in dem Skandal. Jetzt kämpfen die verbliebenen 500 Beschäftigten in Deutschland um ihr Recht auf Information und die Vertretung ihrer Interessen.

"Wir haben mit 76 Nationen in einem tollen Arbeitsklima zusammengearbeitet", erinnert sich Monika S. an die Zeit vor dem Skandal. Sie ist bei der Wirecard als technische Projektleiterin eingestellt und kann zwei abgeschlossene Studiengänge vorweisen – in Arbeits- und Organisationspsychologie sowie Wirtschaftsinformatik. "Wir waren gelebte und funktionierende Integration und fühlten uns als die große technologische Hoffnung Deutschlands", beschreibt sie das Betriebsklima im IT-Bereich. "Die Produkte und die Technik kommen von den Angestellten und nicht von den Managern, wir haben die Arbeit gemacht."

Doch dann, an einem Donnerstag, bekam Wirecard das Testat der Wirtschaftsprüfung nicht ausgestellt. Am darauffolgenden Montag meldete die Unternehmensgruppe Insolvenz an.

„Völlig unerwartet“

Monika ist jung und hatte sich um ihre berufliche Zukunft keine Sorgen machen müssen. Doch da waren die vielen anderen Kolleginnen und Kollegen, mit denen sie bis dahin zusammengearbeitet hat und die zu Freunden geworden waren. "Diejenigen, die mit Blue Cards aus dem Ausland zu uns gekommen sind, erhielten keine Stempel mehr auf ihre Arbeitsbescheinigungen", erzählt Monika. Und nicht nur sie, auch die deutschen Kolleginnen und Kollegen bangten um ihre Jobs.

Anbu S., Mitarbeiter im IT-Sicherheitswesen, hat zwar seit letztem Jahr einen deutschen Pass. Doch als Alleinverdiener mit drei Kindern war seine Sorge groß, die Arbeit zu verlieren. "Nie hätte ich mir vorgestellt, dass Wirecard insolvent wird", sagt der gebürtige Inder.

Deniz T., Teamleiter des IT Supports, wurde ebenfalls von dem Ende des einstigen Börsenstars überrascht. "Es gab bis dahin doch nur gute Signale. Selbst Corona war kein Problem. Alle redeten positiv über Wirecard. Die Insolvenz kam völlig unerwartet für mich. Und da ich in der Probezeit war, befürchtete ich, meine Arbeit zuerst zu verlieren."

„Das Management schaut auf Gewinne und versteht dabei oft nicht, dass die wahren Vermögen des Unternehmens die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrem Wissen und Können sind“
Monika S., Projektleiterin und Betriebsratsmitglied bei Wirecard

Auch für die Aktionäre kam die Insolvenz aus heiterem Himmel. Manche ließen ihre Wut über den Absturz der Aktie an den Beschäftigten aus. Aufgebrachte Anleger erschienen vor dem Firmengelände und beschimpften das Personal. Sicherheitsleute mussten vor dem Tor postiert werden, um aufzupassen. "Aber ich hatte doch auch selbst Aktien gekauft", sagt Sigi B., der Projektleiter bei Wirecard ist. "Auch ich glaubte an den Erfolg und habe alles verloren als die Aktie von 180 Euro auf einen Euro runterfiel." 14 Jahre ist er in dem Unternehmen beschäftigt. Bis zuletzt hatte er geglaubt, Wirecard sei so erfolgreich wie dargestellt. "Wir hatten gerade mehrere Verträge mit großen Kunden aus dem Handel abgeschlossen. Die Zukunft sah gut aus."

„Jeder, der geht, schmerzt“

Nachdem die Pleite da war, fragten sich Monika und ihre Kollegen, was sie für ihre Arbeitsplätze tun können. Sie hatten schließlich ein großartiges Miteinander und freundschaftliche Beziehungen gehabt, wie sie betonen. "Ich habe erst einmal gegoogelt, was Gewerkschaften machen und wie man überhaupt Gegenmacht in einem Unternehmen aufbaut", sagt Monika.

Sigi sei sich schon früher im Klaren gewesen, wie wichtig Betriebsräte sind. Bisherige Initiativen zur Gründung von Betriebsräten seien aber "im Sande verlaufen, da das Management dem gegenüber nicht positiv eingestellt war", berichtet er. "Es hat Gegenwind, Mauscheleien von oben und Mobbing gegeben." Erst als das Management großteilig weg und der Betrug aufgeflogen war, "dachten wir, jetzt oder nie". Doch die Angst vor Konsequenzen war groß. Deshalb hätten sie sich erst "aus der Deckung getraut", als die Wahlvorstände gewählt und vor Kündigung geschützt waren und ver.di das gegenüber dem Management und der Personalabteilung offiziell bekannt gemacht hatte.

Der Scherbenhaufen, den die Führungsriege hinterlassen hat, ist gigantisch. Laut Staatsanwaltschaft München ist von bis zu drei Milliarden Euro die Rede, die fehlen. Die Aktie ist aus dem DAX gefallen und nichts mehr wert. Der Vorstandsvorsitzende Markus Braun sitzt in Untersuchungshaft. Sein Vorstandskollege Jan Marsalek ist untergetaucht. Und die meisten der ehemals 40 weltweiten Tochtergesellschaften mit mehreren tausend Beschäftigten sind verkauft. Das hat Arbeitsplätze gekostet und Existenzen zerstört.

Auch in Deutschland wurden 800 Beschäftigte innerhalb von zwei Monaten entlassen. Angekündigt hatte dies eine Bereichsleiterin kurz nach der Insolvenzanmeldung mit den Worten: "Wir sind zu fett." Die Medien berichteten darüber. Die Frau bekam einen externen Beratervertrag bei Wirecard – angesichts der Massenentlassungen ein besonderer Hohn.

Bis zur Insolvenzeröffnung im August gingen weitere 300 Beschäftigte aus eigenem Antrieb. "Sie hatten vermutlich kein Vertrauen mehr ins Unternehmen, weil es auch keine Informationen gab", sagt Deniz. Er ist besorgt: "In vielen Bereichen sind wir nur noch sehr dünn besetzt. Jeder, der geht, schmerzt."

„Die von ver.di waren für uns da“

Allerdings konnten auch ein paar Entlassungen von Schwangeren und in Mutterschutz befindlichen Mitarbeiterinnen sowie Menschen mit Behinderungen rückgängig werden. "Das hat ver.di erreicht", sagt Monika. "Solche Kündigungen sind nicht erlaubt und unwirksam", betont sie. Und: "Jeder Arbeitsplatz, den wir retten, zählt."

In der schweren Krise habe ihnen ver.di sehr geholfen, sagt Monika. "Die standen mit Informationsblättern bei uns vor der Tür, als wir noch ganz wenige Mitglieder waren", sagt sie. "Die von ver.di waren für uns da, als überhaupt keiner für uns da war." Inzwischen sind viele Mitglieder in ver.di, und es werden immer mehr.

Gemeinsam haben die Systemtechniker*innen, Programmierer*innen, Banker*innen, Verwaltungsleute und Finanzmitarbeiter*innen mitten in der Pandemie und der für sie völlig unerwarteten Konzernkrise das scheinbar Unmögliche geschafft und in zwei Monaten sieben Betriebsratsgremien für sieben Gesellschaften gewählt. Sie vertreten jetzt die verbliebenen 500 Beschäftigten. Eine achte Gesellschaft in München war zu klein für einen Betriebsrat und die neunte schon verkauft. Monika, Deniz, Anbu und Sigi gehören zu den frisch gewählten Betriebsratsmitgliedern. Die Basisschulungen haben sie in einem Schnellkurs absolviert. Jetzt fordern sie Informationen von der Insolvenzverwaltung, um ihre Arbeit machen zu können und ihr Mitbestimmungsrecht auszuüben.

Für die Zukunft hofft Monika, dass die anstehenden Betriebsübergänge ohne weitere Entlassungen ablaufen. Ihr Arbeitgeber, die Service-Tochter, wurde im November von der Santander Bank gekauft. Jetzt müssen die Betriebsräte den Betriebsübergang gestalten, und sollte es doch zu Entlassungen kommen, dann müssen sie Sozialpläne und Interessenausgleiche verhandeln.

Wenn beim neuen Inhaber die neuen Betriebsräte gewählt werden, dann möchte Monika wieder kandidieren. Ihre Ziele sind faire Gehaltsbänder, Betriebsvereinbarungen und Ausbildungspläne für qualifizierten Nachwuchs. Mitbestimmung und das Recht auf Information will sie sich nie wieder nehmen lassen. "Informationen sollen künftig etwas Normales sein", sagt sie. "Wenn es schon die gesetzlichen Grundlagen dafür gibt, dann sollte man sie auch nutzen."

Den meist ebenfalls jungen Beschäftigten anderer Fintech-Unternehmen rät Monika, für Betriebsräte und Mitbestimmung zu kämpfen: "Das Management schaut auf Gewinne und versteht dabei oft nicht, dass die wahren Vermögen des Unternehmens die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrem Wissen und Können sind."

Der Wirecard-Skandal

Das seit 1999 börsennotierte Zahlungsdienstleistungsunternehmen Wirecard AG hat seinen Sitz in Aschheim bei München. Die Unternehmensgruppe mit weltweit zahlreichen Tochterunternehmen bietet technische Lösungen für den elektronischen Zahlungsverkehr. Die Tochtergesellschaft Wirecard Bank AG verfügt über eine deutsche Banklizenz. Von September 2018 bis August 2020 war die Wirecard AG Bestandteil im DAX, dem Aktienindex für die 30 größten Unternehmen des deutschen Aktienmarktes. Die Financial Times berichtete mehrfach über Unstimmigkeiten in der Bilanz von Wirecard. Wirtschaftsprüfer und Finanzaufsichtsbehörden versagten jedoch. Im Gegenteil, die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) erstattete im Oktober 2019 Strafanzeige gegen Journalisten der Financial Times wegen Marktmanipulation. Erst im Juni 2020 erstattete die BaFin dann Anzeige gegen den Vorstandsvorsitzenden von Wirecard und drei weitere Vorstandsmitglieder wegen des Verdachts auf Marktmanipulation. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young hatte das Testat für die Bilanz des Geschäftsjahrs 2019 verweigert, weil sie keine ausreichenden Nachweise über die Existenz von Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden Euro ermitteln konnte. Im August wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Den Gläubigern fehlen 12,5 Milliarden Euro, da offene Rechnungen und Verbindlichkeiten nicht beglichen und Gehälter nicht gezahlt wurden.

Kommentar Seite 15

Frisch gewählte Betriebsräte

In sieben Unternehmen der Wirecard-Gruppe haben die Beschäftigten jetzt Betriebsräte gewählt, die künftig ihre Interessen vertreten:

1. Wirecard AG: Mutterunternehmen, u.a. zuständig für zentrale Aufgaben wie Planung, Personalwesen, Buchhaltung, Controlling. Von ehemals 300 Beschäftigten sind weniger als 50 noch da.

2. Wirecard Bank AG: Zuständig für Kontoeröffnungen, Kreditkarten, IBAN-Vergabe und Onlinebezahlung. Von 230 Mitarbeiter*innen sind 160 in der AG verblieben.

3. Wirecard Technologies GmbH: Zuständig für IT-Infrastruktur, von Laptops bis zu Servern, Hard- und Software, technische Sicherheit. Von ehemals 180 Beschäftigten sind jetzt noch 50 im Unternehmen.

4. Wirecard Acceptance Technologies GmbH: Zuständig für die Bezahlakzeptanz, die Anpassung der Bezahlmethoden an die Bedürfnisse der Kunden, die sichere Ver- und Entschlüsselung der Daten über mehrere Stufen zwischen Endkunden und Bank. Von knapp 200 Mitarbeiter*innen sind noch über 100 da.

5. Wirecard Issuing Technologies GmbH: Zuständig für die Kartenausgabe wie Kreditkarten und Prepaidkarten. Von fast 300 Mitarbeiter*innen sind weniger als 50 verblieben.

6. Wirecard Service Technologies GmbH: IT-Infrastruktur, Markteinführung von softwaregestützten neuen Arbeitswerkzeugen und Datencentertechnik. Von 500 Mitarbeiter*innen sind nicht einmal mehr 50 im Einsatz.

7. Wirecard Global Sales GmbH: Zuständig für den Vertrieb, zum Beispiel für die digitale Bezahlung bei Reiseunternehmen wie Lufthansa und Deutsche Bahn, aber auch für Konsumgüter und Supermärkte und allem, was mit Logistik und Hardware-Terminals zu tun hat. Weniger als 50 der ehemals 170 Beschäftigten sind im Betrieb noch tätig.