Die Elenden

Anna Mayrs Buch "Die Elenden" trägt den Untertitel "Warum unsere Gesellschaft Arbeitslose verachtet und sie dennoch braucht". In einem Wechsel aus Erlebtem, Gelesenem und Reportage belegt Anna Mayr sehr anschaulich, wie genau diese beiden Punkte zusammenhängen. Mayr ist als Kind arbeitsloser Eltern aufgewachsen, in einer mittelgroßen Stadt im Ruhrgebiet in einem sogenannten Problemviertel. Aber was heißt schon Problemviertel? Ihre Eltern haben beide Abitur gemacht, der Vater anschließend eine Ausbildung zum Tischler, ihre Mutter hat Philosophie studiert. Vielleicht kamen die Kinder zu früh, aber das erklärt nicht, warum der Vater von einer Zeitarbeitsfirma zur nächsten geschoben und irgendwann nicht mehr gebraucht wird.

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In Mayrs Logik wird er dennoch gebraucht. Und die Erklärung dafür ist simpel: Der Kapitalismus benötigt immer mehr Arbeitende, als er tatsächlich einsetzt. Denn für jedes neue Unternehmen, das gegründet wird, müssen mögliche Beschäftigte zur Verfügung stehen. Erwerbslos bleiben die, für die nie eine passende Stelle gefunden wird. Was einen "Die Elenden" von Mayr wie Victor Hugos gleichnamigen Gesellschaftsroman verschlingen lässt, ist die schonungslose Offenheit, mit der Mayr einerseits ihre Geschichte eines Kindes von Langzeitarbeitslosen erzählt, andererseits aber auch die Fehler in unserem Wirtschaften und in unserer Gesellschaftsform benennt.

Dabei ist ihr Buch weder eine Autobiografie noch ein reines Sachbuch. Es ist vielmehr ein leidenschaftliches Plädoyer für einen Systemwandel, das sich den einen oder anderen Kollegen genauso vorknöpft wie Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, SPD, der mit der Hartz-IV-Gesetzgebung die Elenden in eine noch elendere Lage gebracht hat. Mayrs Buch ist berührend und aufrüttelnd zugleich. Und beschämt diejenigen, die immer noch meinen, die Arbeitslosen seien an ihrem Elend selbst Schuld. Petra Welzel

Anna Mayr, Die Elenden, Hanser Berlin, 207 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-344626 8401

Streamland

Mehr als 200 Millionen Menschen hatten Ende vergangenen Jahres Netflix abonniert. Er ist der weltweit am weitesten verbreitete Streaming Dienst. Für den Medien- und Kommunikationswissenschaftler Marcus S. Kleiner sind diese Dienste keine zeitgemäße Fortentwicklung vergangener Zeiten mit drei Fernsehsendern, er sieht durch Netflix und andere Streamingdienste wie Amazon Prime, Disney+ und Apple TV+ unsere Demokratie bedroht.

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Auf den ersten Blick erscheint das weit hergeholt. Schließlich bieten die Streamingdienste erst einmal eine scheinbar unergründliche Vielfalt. Doch geschaut wird bei Netflix zu 80 Prozent, was der Algorithmus empfiehlt. Diese Empfehlungen basieren auf sekundengenauer Analyse des jeweiligen Seh- und Suchverhaltens. Intransparent, kritisiert Kleiner, zudem bleibe man thematisch bei dem, was wir kennen.Ein weiterer Kritikpunkt Kleiners ist, dass Streaming-Dienste den Anspruch schaffen, dass alles sofort erledigt werden muss.

Das gewünschte Programm ist jederzeit verfügbar. Und man muss sich auch nicht mehr mit anderen auf einen Kompromiss verständigen. Jede*r hat sein*ihr eigenes Empfangsgerät, und sei es das Smartphone, mit dem er*sie sich in eine eigene Welt zurückziehen kann, selbst wenn man gemeinsam nebeneinander auf dem Sofa sitzt. Mikrogesellschaften entstehen – und das hält Kleiner für eine Gefahr für politische Debatten. Zugleich sinkt durch diesen "digitalen Narzissmus" die Bedeutung von Kollektivität und Solidarität

Es sind interessante Thesen, die Kleiner in seinem Buch aufgreift. Thesen, die deutlich machen, wie wichtig es ist, Digitalisierung demokratisch zu gestalten. Zumal durch den kommerziellen Erfolg auch eine Marktmacht entsteht und dadurch auch politischer Einfluss. hla

Marcus S. Kleiner: Streamland. Wie Netflix, Amazon Prime und Co unsere Demokratie bedrohen, Droemer Verlag, München, 304 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3426278314