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2016 wird ein Polizeibeamter im bayerischen Georgensgmünd während eines Einsatzes bei einem Reichsbürger von diesem erschossen. Die Polizei wollte bei dem Täter gehortete Waffen beschlagnahmen. Seit diesem Datum setzt sich bundesweit bei den Ermittlungsbehörden die Erkenntnis durch, dass es sich bei Reichsbürger*innen um Verfassungsfeinde handelt, die auch Gewalt anwenden – und eben nicht um harmlose Spinner*innen.

In den zurückliegenden Monaten ist die Reichbürger*innenszene zudem mehr in die öffentliche Wahrnehmung gerückt, weil sie sich, ebenso wie viele bekannte Akteure der Neuen Rechten, an Demonstrationen von Corona-Leugnenden beteiligt. Geht mit der gestiegenen Wahrnehmung auch ein Anwachsen der Szene einher? Sind Reichsbürger*innen tatsächlich eine Gefahr, oder war der Täter von Georgensgmünd ein psychisch kranker Einzeltäter? Um diese und weitere Fragen ging es auf einer Veranstaltung, zu der der Arbeitskreis Antirassismus in ver.di Hamburg eingeladen hatte. Referent war Andreas Speit, Journalist und renommierter Rechtsextremismus-Experte sowie Herausgeber des Buches "Reichsbürger: Die unterschätzte Gefahr".

ver.di publikWelche Ideologie haben die Reichsbürger*innen gemeinsam?

Andreas Speit – Reichsbürger lehnen Deutschland als Staat ab und erkennen das Grundgesetz nicht als unsere Verfassung an. Sie teilen in der Regel die Idee eines noch bestehenden Deutschen Reiches oder einer wie auch immer gearteten Selbstverwaltung. Antisemitismus ist weit verbreitet in der Szene. Im Verhalten werden sie oft gegenüber Vertretern staatlicher Institutionen, wie Behörden oder Ämtern, übergriffig, auch gewalttätig. So haben zum Beispiel Mitglieder des "Deutschen Polizeihilfswerkes", einer der wenigen größeren Strukturen innerhalb der Szene, einen Gerichtsvollzieher verhaftet. Ein weiteres Beispiel ist natürlich der Schütze von Georgensgmünd. Auch gegenüber Journalisten und Presse gibt es ein hohes Gewaltpotenzial. Weil sie bestreiten, dass es eine gültige Verfassung gibt, sehen sie sich damit im Recht.

ver.di publikWie ist die Reichsbürger*innen-Szene denn aufgebaut?

Andreas Speit – Bundesweit zählen wir 19.000 Reichsbürger. Die Zahl stagniert, doch das Problem ist, dass nur die bekannt sind, die sich selbst als Reichsbürger zu erkennen geben. Eine Dunkelzifferschätzung gibt es nicht. Sie treffen sich eher in kleinen Kreisen, selten in größeren Zusammenschlüssen. Das macht sie nicht weniger gefährlich, denn vor einzelnen Personen kann sich der Staat schwerer schützen.

ver.di publikUnd wohin entwickelt sich die Szene aktuell?

Andreas Speit – Zurzeit sehen wir im Zuge der Proteste von Corona-Leugnern, an denen Reichsbürger sichtbar teilnehmen, eine Annäherung an die "Querdenker-Szene". Zwar sind das zwei unterschiedliche Bewegungen, doch sie teilen die Haltung, dass es keine gültige Verfassung gibt.

ver.di publikWird die Bewegung anwachsen, wie ist deine Prognose? Und was muss jetzt passieren?

Andreas Speit – Die Bewegung wird nicht abebben. Ich befürchte eher eine Art Selbstaufschaukelung und in der Folge auch Angriffe auf staatliche Einrichtungen wie Schulen oder auf Personen. Es ist richtig, wenn Täter nicht mehr als psychisch angeschlagene Einzeltäter verharmlost werden. Man darf den Kontext einer Tat nicht ausblenden. 'Gewähren lassen, machen lassen' hilft nicht. Auch mit den Multiplikatoren zu reden hilft nicht. Der Staat muss hier Grenzen ziehen! Das ist richtig. Ich befürchte aber in der Pandemie zudem und zunehmend, dass wir die Vernünftigen verlieren werden, wenn diejenigen, die sich an alle Regeln halten, immer wieder erleben müssen, wie der Staat diese Menschen auf den Corona-Leugner-Demos gewähren lässt.

Buchtipp

Andreas Speit (Hg.): Reichsbürger – Die unterschätzte Gefahr, Ch. Links Verlag, Berlin, 216 Seiten, 18 Euro, ISBN: 978-3861539582