ver.di publik: Mit 52,2 von 100 Punkten liegt Griechenland beim Gleichstellungsindex auf dem letzten Platz in der EU. Warum ist das so?

SISSY VOVOU: In Griechenland gab es nie eine starke Frauenbewegung. Zusätzlich ist die soziale Infrastruktur des Landes nicht gut ausgebaut. Kindergärten, Horte, Pflegeheime, Pflegepersonal in Krankenhäusern – all das ist nicht genug vorhanden oder sehr teuer. Der Aufbau dieser Struktur entspringt einer patriarchalen Wahrnehmung und dem immer noch gängigen System, sich auf den Rückhalt der Familie zu verlassen. Im Fall der Betreuung und Pflege bedeutet das dann, sich auf die Frau zu verlassen. In Zeiten von Corona haben sich die Dinge nochmals verschlechtert und die Lage ist angespannt.

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Frauenrechtlerin Sissy VovouFoto: youtube

ver.di publik: Wie sieht es in Griechenland in Bezug auf den Gender Pay Gap, die Lohnungleichheit aus?

VOVOU: Im öffentlichen Sektor liegt der Unterschied bei 7 Prozent, ist also nicht so groß. Im Privatsektor allerdings ist es ein Unterschied von 17 Prozent. Frauen gelten in den meisten Betrieben auch heute noch als minderwertige Arbeitskraft, denn sie werden als Mutter oder als potentielle Mutter zum Betriebsrisiko erklärt. Deshalb wird ihnen weniger gezahlt. Die Frauen sind froh, wenn sie überhaupt eine Anstellung bekommen und lassen sich darauf ein. Deshalb befindet sich der größte Teil der Griechinnen in Teilzeitarbeit mit befristeten Arbeitsverträgen. Sobald eine Frau im reproduktiven Alter ist, gilt sie förmlich als krank für den Arbeitsmarkt.

ver.di publik: Welche Auswirkungen hatte die Wirtschaftskrise 2008/2009 in Griechenland auf die Arbeitsbedingungen für Frauen?

VOVOU: Vor 2008 konnten wir eine leichte Tendenz hin zur Gleichberechtigung der Geschlechter beobachten. Durch die Wirtschaftskrise und jetzt zusätzlich durch die Pandemie wurde diese allerdings im Keim erstickt. Das Paradoxe ist: Die Arbeitgeber behalten oftmals die Frauen, da sie billigere Arbeitskräfte sind, und entlassen die Männer zuerst. Es gab seit Beginn der Krise im Jahr 2008 einen extremen Anstieg der Arbeitslosenzahl, hauptsächlich bei den Männern. Das Schlimme: Die Männer waren also zu Hause, kümmerten sich allerdings meist nicht um Haushalt und Kinder, das hat der größte Teil von ihnen so nie gelernt. Für viele gilt das immer noch als peinlich und ist Frauenarbeit. Die Frauen müssen also für weniger Geld arbeiten und sich dann noch zu Hause um die Familienangelegenheiten kümmern.

ver.di publik: Was muss passieren, um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für die Frauen in Griechenland zu schaffen?

VOVOU: Wir brauchen eine angemessene Gesetzgebung im privaten Sektor, damit mehr Frauen eingestellt werden. Statistiken zeigen, dass Frauen in Bezug auf Bildung ganz weit vorne liegen. Es gibt in Griechenland dennoch keine großen Unternehmungen, um das Arbeitsrecht der Frau voranzutreiben. Ein guter Schritt ist, dass das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation gegen Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ratifiziert werden soll. Die Frage ist noch, inwieweit es Sanktionen und Strafen für Arbeitgeber geben wird, die das nicht umsetzen. Die Gewerkschaften haben erst jetzt einen Aufruf gestartet, nachdem die MeToo-Bewegung im Januar dieses Jahres auch Griechenland erreicht hat. Die Bewegung hat uns hier erst so spät erreicht, weil viele Frauen besonders in Krisenzeiten nichts sagen, aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Wenn die Gewerkschaften hier unterstützend arbeiten, ermutigen sie die Frauen. Darauf hoffen wir.

Interview: Theodora Mavropoulos