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Am 11. Juli 2018 ging in München der Prozess gegen den rechtsterroristischen NSU mit Schuldsprüchen zu Ende – Demonstrant*innen fordern eine weitere AufarbeitungFoto: Christian Mang

Bei Strafprozessen ist es nicht üblich, Ton-oder Videomitschnitte anzufertigen. Es gilt allein das gesprochene Wort. Unter den Prozessbeobachtern des NSU-Prozesses saßen an allen 438 Verhandlungstagen aber die Gerichtsreporter*innen der ARD. Sie protokollierten auf insgesamt 6.000 Seiten die Aussagen der Opfer, der Täter, der Zeugen, der Bundesanwaltschaft und der Nebenkläger. Jede Beweisaufnahme und am Ende die Plädoyers und die Urteilsverkündung. Entstanden ist ein einmaliges Dokument, das der Bayerische Rundfunk knapp drei Jahre nach Urteilsspruch in einem Mammutprojekt zu einem beeindruckenden Doku-Hörspiel verdichtet hat. Zwölf Stunden Audiomaterial sind jetzt, in 24 thematisch geordneten Kapiteln, als Podcast abrufbar. Eine Mammutaufgabe, die ein ARD-Mitarbeiter als eine Art Puzzle beschreibt, dessen Teile unvollständig, verwittert und beschädigt sind, die man im Dunklen zusammenfügen musste.

Schauspieler*innen wie Martina Gedeck und Thomas Thieme machen die Personen und Vorgänge um die NSU-Morde auf eindringliche Weise erfahrbar. Sachlich tragen sie die ganze Ungeheuerlichkeit der Geschehnisse vor – das Staatsversagen auf allen Ebenen unserer Gesellschaft: das multiple Versagen des Verfassungsschutzes, das gänzlich ohne Konsequenzen blieb; die massiven Fehler der Ermittlungsbehörden, die nicht miteinander kommunizierten; den grausamen Umgang von Polizei und Medien mit den Angehörigen der Opfer, und nicht zuletzt das private Umfeld der Mörder und Rechtsterroristen, und wie es ihnen das jahrelange Leben im Untergrund ermöglicht hat. Zwischendurch ordnen drei Gerichtsreporter*innen die Ereignisse ein, was das Verständnis der komplexen Vorgänge zwischen dem Abtauchen der drei NSU-Täter im Untergrund Ende der 1990er, dem Beginn der Mordserie Anfang 2000 bis hin zum gescheiterten Banküberfall in Eisenach und der anschließenden Selbsttötung der zwei männlichen Täter 2011 erleichtert.

Wie schwer es für die Angehörigen gewesen sein muss, dies alles im Saal A 101 zu rekapitulieren, lässt sich kaum ermessen. Etwa die grausame Behandlung durch die Ermittler. Zehn Jahre lang unterstellte man den Opfern organisierte Kriminalität, anstatt den eindeutigen Hinweisen von Zeugen zu glauben, die auf Neonazis und damit einen fremdenfeindlichen Hintergrund hinwiesen. Von über hundert dieser Polizeibeamten hat sich nur einer im Prozess zu den Nebenklägern umgedreht und sich dafür entschuldigt. Bis heute rauben die vielen ungeklärt gebliebenen Fragen den Angehörigen den Schlaf. Allen voran aber quält sie die Frage, warum Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michéle Kiesewetter sterben mussten. Jenny Mansch

Zu hören im Podcast der ARD-Audiothek und in Streamingportale