Ausgabe 05/2021
Alles digital oder was?
So wie vor über hundert Jahren die Fließbandfertigung Produktionsabläufe radikal verändert hat, wälzt heute Digitalisierung die Arbeitswelt um. Während damals stupide Tätigkeiten als Massenerscheinung durch das Fließband erst möglich wurden, geht der Trend aktuell in eine andere Richtung: Gleichförmige Arbeit übernimmt Kollege Computer oder Roboter – alles, was Einfühlung, komplexes Denken und Handeln erfordert, bleibt beim Menschen.
Doch ganz so einfach ist es nicht. Wenn immer mehr digitale Maschinen Arbeiten in Warenlagern, Callcentern, Banken, Versicherungen, aber auch in Containerhäfen, Finanzämtern und anderen Bereichen ausführen, würden sehr viele Arbeitsplätze wegfallen. Damit das nicht passiert, handeln Betriebsräte und Gewerkschaften Tarifverträge aus, die den Übergang vom analogen ins digitale Arbeitszeitalter sozialverträglich regeln und Chancen nutzen. Im Zuständigkeitsbereich von ver.di gibt es bereits einige Tarifwerke, die genau das leisten.
Im sicheren Hafen
Als vorbildlich gilt der "Tarifvertrag Zukunft", seit 1. Januar 2019 bei Eurogate in Kraft, dem Betreiber verschiedener Containerterminals an norddeutschen Häfen. Abgeschlossen wurde er "zur sozialen und mitbestimmten Gestaltung von Automatisierungsvorhaben" sowie zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit. Das Ziel: Technischer Fortschritt soll nicht einseitig zu Lasten der Beschäftigten gehen.
Der Tarifvertrag hat eine Laufzeit von zehn Jahren. Vereinbart ist, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen geben soll, sondern Qualifizierungsangebote und Arbeitszeitverkürzung. Der Tarifvertrag "regelt die Zukunft der Hafenarbeit und strahlt darüber hinaus in die gesamte Arbeitswelt", sagte Christine Behle, damals ver.di-Bundesvorstandsmitglied, heute Vizevorsitzende, anlässlich des Abschlusses. "Die durch Automatisierung und Digitalisierung getriebenen Veränderungsprozesse erfordern eine Beteiligung der Beschäftigten auf Augenhöhe", sagte Behle weiter. Daher sei die Stärkung der Mitbestimmung, gezielte Qualifizierung und weitere Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich die richtige Antwort.
Schon seit dem 1. Januar 2014 ist der "Innovations- und Rationalisierungsschutz-Tarifvertrag" für das Container-Terminal Altenwerder der Hamburger Hafen Logistik in Kraft. Je nach Innovationsumfang werden mögliche betroffene Beschäftigte frühzeitig informiert. Jobverlust soll verhindert werden durch: Qualifizierungen, Arbeitsplatzsicherung beziehungsweise das Angebot eines Alternativarbeitsplatzes.
Gut geschützt und digital geschult
Weitere Beispiele gibt es in der Versicherungswirtschaft. Dort hat ver.di mehrere Regelungen zur Abfederung der Digitalisierung abgeschlossen: Darunter eine Tarifvereinbarung für das private Versicherungsgewerbe vom August 2017, in der eine Verhandlungsverpflichtung zur Digitalisierung festgeschrieben ist. In ihr erklären die Tarifvertragsparteien, dass sie bestrebt sind, den digitalen Wandel im Interesse der Beschäftigten als auch der Unternehmen positiv zu gestalten. Wer bereits im Betrieb arbeitet, für den soll bei Verhandlungen zur Digitalisierung die Beschäftigung gesichert werden. Außerdem sollen die digitalen Kompetenzen des Personals gefördert werden.
Solche Aspekte finden sich auch im Tarifwerk mit der Provinzial NordWest Holding AG vom Dezember 2019 wieder. Darin vereinbart das Versicherungsunternehmen soziale Leitplanken zur Zukunftssicherung bei Digitalisierung. Rationalisierung soll nicht zu betriebsbedingten Beendigungskündigungen führen und mögliche Sozialpläne werden auf die Folgen von Rationalisierungen ausgedehnt. Demnach sollen die Beschäftigten mit Qualifizierungsangeboten für neue Aufgaben fit gemacht und nicht entlassen werden. Der Betriebsrat bestimmt mit, die Belegschaft wird in die Veränderungsprozesse einbezogen.
Veränderungen werden abgefedert
Auch im öffentlichen Dienst beim Bund verändert Digitalisierung die Arbeitsplätze erheblich. Hier dauerten die Verhandlungen zwei Jahre. Im Juni kam der Durchbruch, der Digitalisierungstarifvertrag für die 126.000 Beschäftigten ist jetzt beschlossen. Ab 1. Januar 2022 sind damit durch die Digitalisierung verursachte Veränderungen abgefedert. Beschäftigte sollen nach Möglichkeit einen gleichwertigen Arbeitsplatz erhalten, wenn ihr bisheriger durch eine technische Entwicklung wegfällt. Wer aufgrund der Digitalisierung den Arbeitsort wechseln muss, kann eine einmalige Mobilitätszulage erhalten. Die Höhe richtet sich nach der Entfernung und liegt zwischen 2.000 und 6.000 Euro. Und für diejenigen, die wegen der Digitalisierung eine andere, geringer vergütete Tätigkeit übertragen bekommen, gibt es langfristige Regelungen zur persön-lichen Entgeltsicherung.
Schlau und mobil
Außerdem wurde ein Anspruch auf Qualifizierung vereinbart. Er gilt immer dann, wenn sich eine Tätigkeit durch Digitalisierung verändert. Damit sollen die Beschäftigten weiterhin den geänderten Anforderungen gewachsen bleiben. Der Arbeitgeber zahlt die Kosten. Schließlich wurden auch Regelungen zum mobilen Arbeiten in den Tarifvertrag aufgenommen. Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, welche Probleme es beim mobilen Arbeiten und im Homeoffice geben kann. Deshalb schreibt der Tarifvertrag auch vor, dass diese Arbeitsformen per Dienstvereinbarung festgelegt werden. Darin sollen Regelungen zur Arbeitszeit stehen, zur Übernahme der Kosten für die erforderliche Technik sowie auch zum Ausschluss von Überwachungs-, Leistungs- und Verhaltenskontrollen.
"Mit dem Digitalisierungstarifvertrag ist es gelungen, eine verlässliche Grundlage für die Beschäftigten zu schaffen, sie an den digitalen Möglichkeiten teilhaben zu lassen und vor möglichen Risiken zu schützen", sagte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke. "Regelungen zu Qualifizierung und Entgelt sowie zum mobilen Arbeiten geben den Beschäftigten die notwendige Sicherheit in den durch die Digitalisierung veränderten Arbeitsprozessen."