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Gruppenbild mit Mann (und Hund)Foto: Historische Bibliothek des Karl-Richter-Vereins

Wie kann eine Gewerkschaft auf die unterschiedlichen Realitäten von lohnarbeitenden Frauen und Männern reagieren? In dieser Frage lohnt der Blick in die Vergangenheit. Die Gewerkschafterinnen des Kaiserreichs hatten zwar in Sachen Geschlechtergerechtigkeit eine Pionierrolle inne, sind aber trotz ihrer bahnbrechenden Ideen auch im gewerkschaftseigenen Geschichtsbild noch zu unbekannt. Der Historiker Uwe Fuhrmann hat es sich zur Aufgabe gemacht, das zu ändern. Nach seiner biographischen Studie über die Gewerkschafterin Paula Thiede, die erste Vorsitzende einer gemischtgeschlechtlichen Gewerkschaft, legt er ein weiteres Buch vor, das dem Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung nachspürt. Im Fokus seines Buches steht der 1890 gegründete "Verein der Arbeiterinnen an Buchdruck-Schnellpressen", eine Berliner Frauengewerkschaft, sowie der 1898 gegründete "Verband der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen" (VBHi), in dem Thiede als langjährige Vorsitzende amtierte.

Eigene Arbeitsvermittlung

In der patriarchal geprägten deutschen Gewerkschaftsbewegung des Kaiserreichs waren die Bemühungen, mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu erreichen, noch spärlich. Doch der VBHi und dessen Berliner Vorläuferorganisation entwickelten spezifische Strategien, die Fuhrmann aufzeigt. Die Akteurinnen selbst bezeichneten sich damals selbst noch nicht als Feministinnen; der Begriff war um die Jahrhundertwende noch wenig verbreitet. Dennoch können die emanzipatorischen Techniken der Hilfsarbeiterinnen getrost als feministisch bezeichnet werden.

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Foto: verdi archiv

Die im März 1890 gegründete Berliner Frauengewerkschaft umfasste mehrere hundert Mitglieder. Sie übernahmen die anfallenden gewerkschaftlichen Aufgaben und Funktionen, sprich: Sie übernahmen die Verantwortung. Rasch nach ihrer Gründung bauten die Buchdruckhilfsarbeiterinnen ein eigenes Arbeitsvermittlungsbüro auf, den sogenannten Arbeitsnachweis. Eine glänzende Idee, denn bis dahin waren die Arbeiterinnen der Willkür gewerblicher Vermittler ausgesetzt. Am eigenen Arbeitsnachweis aber konnten die Frauen nun selbst entscheiden, welche Arbeitskräfte sie an welche Druckerei vermittelten. War ein Prinzipale, der Eigentümer einer Buchdruckerei, etwa nicht dazu bereit, einen bestimmten Lohn zu bezahlen, stand die komplette Belegschaft wenig später auf der Matte des Arbeitsnachweises. So konnten sie einzelne Betriebe gezielt unter Druck setzen, ohne gleich den großen Arbeitskampf ausrufen und organisieren zu müssen. Das kam den Hilfsarbeiterinnen gelegen. Denn häufiger als ihre Kollegen mussten sie zeitweise aus der Lohnarbeit ausscheiden und die Betriebe wechseln, weil sie Kinder bekamen und versorgen mussten. Für sie war der clevere Arbeitsnachweis ein bedeutendes Instrument in der gewerkschaftlichen Auseinandersetzung, das später durch die Einführung der Tarifverträge abgelöst werden sollte.

Diese Strategien stärkten das Selbstbewusstsein von Gewerkschafterinnen wie Clara Bien, Auguste Bosse und Johanne Reitze und halfen, sich gegen die Männer in der Gewerkschaft zu behaupten. Im 1898 gegründeten "Verband der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen" nahmen die drei genannten Arbeiterinnen eine zentrale Stellung ein. Unter der Bezeichnung "Zahlstelle 1" existierte ihre Frauengewerkschaft als eigenständige Berliner Gruppe in der reichsweiten Gewerkschaft weiter. Da die mittlerweile erfahrenen Gewerkschafterinnen wichtige Funktionen übernahmen und sich gegenseitig gezielt schulten, prägten sie zunehmend die Kräfteverhältnisse im VBHi. Zunehmend bemühte sich der Verband, Faktoren wie Geschlecht und Klasse in der Praxis zu berücksichtigen. Ein wichtiger Grundsatz dabei lautete, dass Gleichberechtigung nicht allein der Gleichbehandlung, sondern mitunter auch der Ungleichbehandlung bedarf.

Strategie der Ungleichbehandlung

Dieser bedeutsame Gedanke spiegelte sich schließlich im gewerkschaftlichen Unterstützungswesen wider. Um 1900 war es in den Gewerkschaften noch üblich, Mitgliedsbeiträge gestaffelt nach Geschlecht zu erheben. Frauen zahlten weniger, unabhängig von ihrem Verdienst. Die Unterstützungsleistungen im Krankheitsfall sowie bei etwaiger Arbeitslosigkeit aber richteten sich nach der individuellen Beitragshöhe. Damit war die Rolle des männlichen Hauptverdieners in den Gewerkschaften praktisch festgeschrieben. Im Gegensatz dazu entschied sich der VBHi auf dem Verbandstag 1905 als erste Gewerkschaft überhaupt, mit diesem Prinzip zu brechen und die Mitgliedsbeiträge ausschließlich nach dem Lohn zu staffeln. Das hatte direkte finanzielle Auswirkungen und zugleich einen immensen symbolischen Wert. Die Gewerkschafterinnen wurden als gleichberechtigte und gleichwertige Mitglieder anerkannt. Im Bereich der Wöchnerinnenunterstützung wählte der VBHi 1908 hingegen die Strategie der Ungleichbehandlung. Direkt nach der Geburt konnten Gewerkschafterinnen eine einmalige Zahlung von 10 Mark erhalten, um den Lohnausfall für diese Zeit zumindest teilweise abzufedern.

Die Emanzipationsbestrebungen der Frauen waren natürlich auch im VBHi nicht ganz unumstritten. Die Gewerkschafterinnen mussten gegen hartnäckige Widerstände ankämpfen. Dennoch: In der deutschen Gewerkschaftslandschaft nimmt der VBHi mit seiner feministischen Praxis eine Sonderrolle ein. Ohne die Solidarität der Männer wäre das kaum möglich gewesen. Die Kollegen wurden von ihren Kolleginnen über die Jahre für die Belange der Hilfsarbeiterinnen sensibilisiert und setzten sich für eine Gewerkschaftspolitik ein, die die Realität der Arbeiterinnen zu berücksichtigen suchte. Die Männer machten sich bei den Arbeitgebern beispielsweise vermehrt für eine Deckelung der Überstunden für Frauen stark, die mit der Kindererziehung einer Mehrfachbelastung ausgesetzt waren. Die Idee, sich die Care-Arbeit zu teilen, war damals jedoch noch Zukunftsmusik.

ver.di und das Erbe der ersten Gewerkschafterinnen

Diese besondere Entwicklung, die Fuhrmann in seinem Buch lebendig beschreibt, war das Ergebnis einer kontinuierlichen, kräftezehrenden Arbeit der Gewerkschafterinnen, die immer wieder – nicht nur in der Verbandszeitung Solidarität – Lohngleichheit, Anerkennung von Sorgearbeit und die gleichberechtigte Mitarbeit in der Gewerkschaft einforderten. Nachdem man im Innern die Idee der Gleichberechtigung durchgesetzt hatte, wirkte der VBHi auch auf die gesamte Gewerkschaftsbewegung ein und konnte 1905 das Arbeiterinnensekretariat in der Generalkommission durchsetzen.

Als Nachfolgerin des Verbandes steht ver.di heute in einer direkten Tradition mit den hier vorgestellten Buchdruckhilfsarbeiterinnen. Es ist ein großes Verdienst des Autors, das Wirken von Paula Thiede und ihrer Kolleginnen vor dem Vergessen bewahrt zu haben. Zwar ist seit diesem Aufbruch der Gewerkschafterinnen eine Menge für die Sache der Frauen erreicht worden. Dennoch verdienen Frauen in Deutschland weiterhin weniger Geld, sind seltener in Führungsfunktionen vertreten und häufiger Mehrfachbelastungen ausgesetzt. Paula Thiede und ihre Kolleginnen hätten sich damit nicht zufriedengegeben. Sie hätten auch nicht akzeptiert, dass es vor allem migrantische Arbeiterinnen sind, die besonders prekär beschäftigt sind. Für eine intersektionale Gewerkschaftsarbeit im 21. Jahrhundert kann die Praxis des VBHi eine Quelle der Inspiration und des Antriebs sein.

Uwe Fuhrmann: Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung (1890–1914). Die Strategien der Buchdruckerei-HilfsarbeiterInnen um Paula Thiede. Transcript Verlag, Bielefeld 2021, 214 Seiten, 24,99 Euro