Tarifverträge schützen. Aber leider immer seltener. Immer mehr Unternehmen in Deutschland sind seit Mitte der 1990er Jahre aus der Tarifbindung ausgestiegen. Aktuell ist nur noch rund die Hälfte der Beschäftigten durch einen Tarifvertrag geschützt. Dazu zählt auch der Öffentliche Dienst, für den nahezu flächendeckend Tarifverträge gelten.

Daher ist davon auszugehen, dass in der Privatwirtschaft mehr als die Hälfte der Beschäftigten allein auf gesetzliche Mindeststandards und den guten Willen der Arbeitgeber angewiesen sind. Im Einzelhandel etwa werden aktuell nur noch 22 Prozent der Beschäftigten vom Tarifschutz erfasst. Der gesetzliche Mindestlohn von derzeit 9,60 Euro pro Stunde, maximal eine 48-Stunden-Woche, eine Arbeitswoche von Montag bis Samstag und gerade mal vier Wochen Urlaub, das sind die Untergrenzen, die der Gesetzgeber eingezogen hat.

Wirft man einen Blick auf die Tarifverträge, dann sind in den zurückliegenden 20 Jahren die Tariflöhne um 60 Prozent gestiegen. Vergleicht man die Lohnentwicklung insgesamt in diesem Zeitraum, liegt die Steigerung bei 47 Prozent. Und nicht nur Gehälter werden in Tarifverträgen geregelt, sondern auch Arbeitszeit, Urlaub, Sonderzahlungen und vieles mehr. Allein seit ihrer Gründung vor 20 Jahren hat ver.di mehr als 33.000 Tarifverträge abgeschlossen.

"Tarifverträge funktionieren nur dann, wenn beide Seiten sie anstreben", sagte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke Ende August bei einer Pressekonferenz. Und das sei das Problem: Ein wirklicher Wille, das Tarifvertragssystem zu stabilisieren, sei im Arbeitgeberlager nicht mehr zu erkennen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Immer mehr Arbeitgeber seien in ihren Verbänden Mitglied OT, was für "ohne Tarif" steht.

In einigen Branchen fehle den Gewerkschaften schlicht der Verhandlungspartner auf der Gegenseite, so Norbert Reuter, der beim ver.di-Bundesvorstand den Bereich Tarifpolitik leitet. Es werde immer schwieriger, für breite Berufsgruppen bessere Bedingungen auszuhandeln.

Politik in der Pflicht

Daher sehen die beiden Gewerkschafter die Politik in der Pflicht. Und dem stimmt auch eine breite Mehrheit der Bevölkerung zu. Bei einer repräsentativen Umfrage im Auftrag von ver.di bewerteten 86 Prozent der Befragten die abnehmende Tarifbindung negativ. 65 Prozent befürworteten einen aktiven Staat, wenn es darum geht, die Tarifbindung zu stärken und zu erhalten. Die Zustimmung liegt bei Wähler*innen von Linkspartei, Grünen, SPD und CDU/CSU deutlich über 50 Prozent, lediglich die Mehrheit der Wähler*innen von FDP und AfD lehnt Eingriffe vom Staat zur Stärkung der Tarifbindung ab.

"Tarifverträge funktionieren nur dann, wenn beide Seiten sie anstreben"
Frank Werneke, ver.di-Vorsitzender

Doch wie soll das geschehen? Ein Weg ist eine erleichterte Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Das bedeutet, dass ein repräsentativer Tarifvertrag für die Beschäftigten aller Unternehmen einer Branche gilt und nicht nur für die, die eine entsprechende Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband haben. Für allgemeinverbindlich erklärt wird ein Tarifvertrag je nach Zuständigkeit von Bundes- oder den jeweiligen Landesarbeitsministerien. Diesem Schritt muss ein Tarifausschuss zustimmen, in dem die gleiche Anzahl von Vertreter*innen von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften sitzen. Für die Allgemeinverbindlichkeitserklärung ist eine Mehrheit nötig.

Damit haben die Arbeitgeber*innen eine Art Vetomöglichkeit,sie können sich sogar über den Willen von Mitgliedern des eigenen Verbandes hinwegsetzen. Die Haltung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) ist eher, so wenige allgemeinverbindliche Tarifverträge wie möglich zu haben. Einige Arbeitgeber sehen durchaus einen großen Nutzen darin, denn für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge schützen vor der Konkurrenz durch Unternehmen, die sich mit schlechterer Bezahlung und schlechteren Arbeitsbedingungen einen Wettbewerbsvorteil verschaffen wollen.

Ein weiteres Mittel, um die Tarifbindung zu stärken, ist eine kollektive Nachwirkung von Tarifverträgen bei einem Betriebsübergang. Und der dritte Weg zur Stärkung ist ein Bundestariftreuegesetz. Das bedeutet, dass Aufträge, die der Bund und seine Behörden vergeben, nur an Unternehmen gehen dürfen, die sich an tarifliche Standards halten. Bei einem Auftragsvolumen von 400 Milliarden Euro pro Jahr dürfte das ein großer Anreiz sein. In vielen Bundesländern gibt es schon entsprechende Gesetze für die Auftragsvergabe von Behörden auf dieser Ebene.

Für ver.di ist eine stärkere Tarifbindung ein zentrales Thema für die kommende Bundestagswahl. Sichere und gut bezahlte Arbeit schützt übrigens auch vor antidemokratischen Orientierungen. Darauf verweist die Hans-Böckler-Stiftung.

Kommentar Seite 15