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Immer der Sonne nachFoto: Sinan Muslu/DEEPOL by plainpicture

Der Tourismus ist durch die Corona-Pandemie weltweit in die Krise geraten, unsere eingeübte Reisepraxis ins Stolpern gekommen. Wie werden wir nach Corona reisen? So selbstverständlich und unbeschwert wie bislang? Oder läutet die Krise eine Zäsur im Tourismus ein? Ein Innehalten bei der klimaschädigenden Vielfliegerei, eine Entschleunigung bei unserem rastlosen Surfen um die Welt? Das Reisestorno zwingt uns jedenfalls, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Die Zukunft scheint plötzlich verhandelbar. Neue Chancen zu gesellschaftlichem Wandel, zu mehr Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit werden diskutiert. Unser mobiler Lebensstil, vor allem der boomende Tourismus ist in Verruf gekommen.

Der Urlaub für alle ist vor allem eine gewerkschaftliche Errungenschaft

Die Boomindustrie

Dabei ist der Urlaub für alle eine gesellschaftliche und vor allem gewerkschaftliche Errungenschaft. Der standardisierte Massentourismus, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand, steht für das Versprechen auf Teilhabe aller am hart erarbeiteten Wohlstand, für Entschädigung für die Mühen und für die Chance, dem Glamour der Reichen und Schönen etwas näherzukommen. Man nennt das die "Demokratisierung des Reisens". Ein Luxus, der früher nur wenigen Privilegierten und Reichen vorbehalten war, ist hierzulande in einer bezahlbaren Wirklichkeit für viele angekommen, auch wenn die Abgrenzungsspiele nach Preis und Ansehen weiter existieren.

Sind TUI und Co. also die großen Demokratisierer? Und die Billigairlines die Wohltäter der Neuzeit, die endlich unendlich vielen den Traum vom Wochenende in Lissabon oder New York ermöglichen, wie Michael O'Leary, Chef der irischen Billigfluggesellschaft Ryanair, stets in Interviews betont? Sind sie demokratisierende Beglücker – oder intelligente Geldmaschinen? Wahrscheinlich beides.

Tourismus ist ein Globalisierer der ersten Stunde und wirtschaftlich gesehen eine Boomindustrie. Seit Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts haben sich die Touristenzahlen weltweit verdreißig- und die Fluggastzahlen versiebzigfacht.

Der Tourismus hat Landschaften ruiniert, aber auch moderne Infrastrukturen befördert. Er hat sich in traditionelle Lebensräume geschlichen, aber auch deren traditionelle Herrschafts- und Machtstrukturen angefressen sowie geregelte Arbeitsverhältnisse und Emanzipationsprozesse für Frauen befördert. Er hat den Erfahrungsraum aller erweitert und Kontakte ermöglicht. Er ist heute ein unverzichtbarer Eckpfeiler der Volkswirtschaften vieler Länder. Die Fliegerei ist ein Klimakiller, die Mobilität ein Stresstreiber, aber ohne Mobilität keine Internationalität und keine Weltgesellschaft.

Profilierte Wissenschaftler wie die Wirtschaftswissenschaftlerin Maja Göpel, die den Vorsitz des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) innehat, werben für einen dauerhaften sozialökologischen Wandel. "Ohne tiefen Strukturwandel und die Veränderung von Konsummustern wird es nicht gehen", sagt Maja Göpel. Die Nachhaltigkeitsforscherin plädiert für ein anderes Wirtschaften.

Balkonien oder Fernreise?

Worauf wollen und können wir beim Reisen verzichten? Wie uns umgewöhnen? Wandlungen in den Bedürfnisstrukturen setzen sich nur langsam durch, und das selten ohne gesellschaftliche Reibung und soziale Proteste. Doch der Anpassungsdruck hat auch mit der Bewegung "Fridays for Future" zugenommen. Billigfliegen ist uncool, die Fernreise wird in Frage gestellt. Aber kann man wirklich guten Gewissens Balkonien als Reisealternative empfehlen?

Seit Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts haben sich die Touristenzahlen weltweit verdreißig- und die Fluggastzahlen versiebzigfacht

Vielleicht ist reisen wertvoller, als man gemeinhin denkt. Nicht als Konsumprodukt und Lifestyle, sondern als sinnliche Erfahrung, als Empfindung von intensiver Körperlichkeit und Lebendigkeit. Wer für Unerwartetes offen ist, wird auch überrascht. Das Reisen ermöglicht uns grundlegende Selbsterfahrungen an unterschiedlichen Orten, die auf uns zurückwirken und sich in unsere Wahrnehmungsweisen und unser Selbstsein einschreiben und ungemein bereichern. Ein Luxus. Eine privilegierte Welterfahrung, für die, die bisher reisen konnten und durften. Ein Privileg der Privilegierten. Aber leider verschüttet unter Konsum, einer touristischen Praxis rasender Weltaneignung, die letztlich in der Diskussion um überfüllte Hotspots wie Venedig oder Barcelona gipfelte.

Die Konsumlogik des Tourismus mag jede und jeden locken und die Reisewünsche rasch erfüllen. Mit der Verplanung von Zeit, der Anreise ohne Eigenbewegung, der Normierung fremder Erfahrungsräume als touristische Spielburgen, der Aufhebung jeglichen Leerlaufs hat das marktförmige touristische Arrangement jedoch aus Reisekultur eine genormte Bedürfnisbefriedigung gemacht.

Meer, Sand, Wind, Natur

Ein viel beschworenes Bild für Muße, Körperlichkeit, gar Erotik ist dagegen immer wieder die Bewegungsfreiheit am Strand. Das Meer, der Sand, der Wind stimulieren die Gesamtheit der menschlichen Sinne und wecken Körpergefühle. Die Natur nimmt eine immer wichtigere Bedeutung ein. Menschen, die sich bewegen, finden leichter zu sich. Weite Strecken zu Fuß zu gehen, wird nicht ohne Grund als Tipp gehandelt. Albert Hofmann, der Erfinder des LSD, empfahl jedem, der auf einen Rausch aus ist, den Gang in den Wald. All das bedeutet nichts anderes, als sich selbst intensiver zu spüren.

Sich dieses Erleben zurückzuholen, könnte Teil eines Wandels der Reisekultur sein. Einer Reisekultur, die sich des Ausverkaufs der Sinne genauso bewusst ist wie einer Vielfliegerei, die das Klima schädigt.

Solche Freiheiten gibt es. Auch als Neuansätze und touristische Projekte in den Nischen. Das Umdenken im Tourismus hat längst begonnen. Länger, intensiver, weniger empfehlen tourismuskritische Portale für Fernreisen. Und wer hätte je gedacht, dass sich heute an jedem Flüsschen ein gut ausgebauter Radweg findet und dass die hiesige Restnatur mit "Toptrails" für Wanderer brilliert? Das Abhängen und Feiern im Freien hat neue Hochkonjunktur, auch weil es spontane Begegnung verspricht. Reisen mit dem Zug durch Europa ist inzwischen auf der politischen Agenda der EU gelandet. Und Europa hat sich kulturell aufpoliert, die Infrastruktur für jede Art Urlaub ist sehr gut geworden – alles leicht zugänglich über Apps, Websites, Foren und andere Communities. Und solange wir gezwungenermaßen unsere Entdeckerlust in der Nähe ausleben, entdecken wir vielleicht auch ein anderes, selbstbestimmteres Reisen.

Kleine Fluchten, neue Ziele

Kaum ein anderer Wirtschaftszweig leidet nach wie vor unter den Einschränkungen durch die Corona-Pandemie wie der Tourismus. Reisen ins Ausland hängen von Inzidenzen ab, jedes Land hat eigene Regeln für Touristen. Wir reisen längst wieder, klar. Aber wir reisen anders. Auch wenn die Flüge nach Mallorca beispielsweise zuletzt wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht haben. Gleichzeitig haben in der Reisebranche viele Beschäftigte ihre Arbeit verloren, und noch immer sind etliche in Kurzarbeit. Was also wird aus der gewerkschaftlichen Errungenschaft des Urlaubs für alle, wenn ihn sich nicht alle leisten können? In diesem Spezial geht's um kleine Fluchten und neue Ziele.

Petra Welzel