Jörn Lamla ist Professor für Soziologische Theorie an der Universität Kassel und Sprecher des Bundesnetzwerks Verbraucherforschung beim Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz. Lamla ist vor allem für seine Forschungen im Bereich digitaler Wandel und Verbraucherschutz bekannt.

ver.di publik: "Niemand weiß so viel über seine Kunden wie Amazon: Welch ein Datenschatz!" – stand kürzlich lobend in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Amazon sei "zu hundert Prozent kundenorientiert". Bei mir löst diese Menge an Daten eher Besorgnis aus. Wie sehen Sie das?

Jörn Lamla: Das drückt diese Ambivalenz ganz schön aus. Digitalisierung ist ja ein Reservoir, um unseren Lebensalltag zu vereinfachen. Und viele Dinge, die uns angeboten werden, fragen wir tatsächlich nach. Als Verbraucherschützer sehe ich aber das Problem, dass die Selbstbestimmung darunter leidet. Und Selbstbestimmung ist eigentlich das Kernthema, das hinter dem Datenschutz steht. Es geht ja beim Datenschutz nicht darum, dass Daten wie ein Heiligtum geschützt werden müssen, sondern dass die Selbstbestimmung gewahrt bleiben muss. Da gibt es ein Gefährdungspotenzial, was das Individuum betrifft, aber auch die Demokratie als Ganzes. Denn wenn andere viel über uns wissen, ist das vielleicht noch nicht so problematisch. Aber wenn sie dieses Wissen nutzen können, um unser Verhalten zu manipulieren, dann schon.

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Prof. Dr. Jörn LamlaFOTO: SONJARODE / LICHTFANG. NET

Wie wird unser Verhalten manipuliert?

Etwa dort, wo es um Empfehlungen geht – wie bei Amazon, Netflix oder Spotify. Durch algorithmische Auswertungen werden uns immer wieder neue Produkte angeboten. In diesen Empfehlungs-algorithmen liegen aber spezifische Wertungen. Im Grunde genommen interpretieren und kuratieren sie Aspekte unserer Persönlichkeit. Und an der Stelle wird die individuelle Selbstbestimmung gefährdet.

Ein Beispiel?

Nehmen wir den Musikgeschmack. Die Macht der Plattformen wie Spotify zeigt sich schon daran, wie das, was gute Musik ist, umdefiniert wird. Für einen Algorithmus ist etwas gut, wenn es Erfolg hat. Also wenn der Titel, der einer Person angeboten wird, gehört und nicht gleich weggeklickt wird. Die faktische Akzeptanz ist dann ein Beweis für "gut". Ob das unter Qualitätsgesichtspunkten gute Musik ist, spielt keine Rolle mehr. Heute diktieren uns Algorithmen, was gute Musik ist, nämlich die, die eine besonders hohe Treffer- oder Funktionsquote haben. Damit wird unser Musikkonsum, unser Kulturkonsum einfach umdefiniert.

Wie kann ich da als Verbraucherin gegensteuern?

Es braucht ein Bewusstsein und kritische Bewertungskompetenzen, damit Verbraucher*innen in einer digitalisierten Konsumwelt selbstbestimmt handeln können. Wir müssen erkennen können, wie Algorithmen oder Empfehlungssysteme – hinter denen Unternehmen wie Amazon stehen, die ein bestimmtes Interesse haben, nämlich unsere Aufmerksamkeit zu fesseln und uns mehr zu verkaufen – in unsere Bewertungen eingreifen und die auch formen. Und wir müssen uns über alternative Bewertungsmaßstäbe Klarheit verschaffen, um diese denen gegenzurechnen, die der Algorithmus zugrunde legt. Kritische Kompetenzen bedeuten immer, einen gewissen Verdacht mitlaufen zu lassen, dass Einseitigkeiten vorliegen können. Zum Beispiel könnten nur Preis und Leistung bewertet und uns daraufhin entsprechende Produkte empfohlen werden. Für uns könnten aber auch Umweltgründe wichtig sein. Oder um bei Musik zu bleiben, müsste man hinterfragen: Will ich das eigentlich, dass ich weiter mit Musik bedudelt werde, wo fast alles gleich klingt? Ist das der Grund, warum ich Musik höre?

Da bräuchte es aber ständige Reflexion und Selbstkontrolle. Wer hat die schon?

Ja, das ist nicht einfach. Wir lassen uns gern zu Routinen verführen durch diese Algorithmen, also wollen die Bequemlichkeit haben. Wichtig wäre, Verbraucher*innen in ihrer Nutzungspraxis so zu unterstützen, dass diese kritische Reflexionsfähigkeit gestützt wird. Ich fände es zum Beispiel spannend, wenn man mit Informatikern oder interdisziplinären Forschungsteams Unterstützungstools entwickelt, die solche kritischen Kompetenzen hervorrufen, indem sie Irritationen erzeugen. Also Apps, die man über Apps legen kann und die hinterfragen: Dieser Dienst bietet dir Ähnliches wie das, was du zuvor konsumiert hast, oder schaut nur auf den Preis. Möchtest du das? Digitale Bewertungsordnungen sichtbar machen, das fände ich ein wichtiges Zukunftsprojekt.

Wer soll, kann das initiieren?

Das kann nicht wieder eine gut gewollte Technikentwicklung von oben sein. Es kann auch nicht einfach auf die einzelnen Verbraucher*innen abgewälzt werden, weil man dann ja die Selbstbestimmungsfähigkeit schon unterstellen würde. Aber wenn wir darüber nachdenken, wie uns die Selbstbestimmung von den Digitalkonzernen entzogen wird, sind wir an einem anderen Punkt. Wir müssen diese Fähigkeit aktiv entwickeln und gestalten. Das ist auch durch einen verbesserten Verbraucherschutz allein nicht zu meistern. Daran müssen Staat, Zivilgesellschaft, Verbände und Verbraucher*innen beteiligt sein. Dafür braucht es eine Verbraucherdemokratie.

Was meint Verbraucherdemokratie?

Man kann Verbraucher*innen nicht nur als individualisierte Einzelne betrachten, die mit anderen nicht in Beziehung stehen. Von Amazon und anderen werden solche Beziehungen ja auch geknüpft. Denken Sie an: "Andere, die das gekauft haben, haben auch das gekauft". Da werden wir sozusagen schon vergesellschaftet mit anderen Käufer*innen. Aber wir selbst nehmen uns nicht als in Kontakt stehend wahr.

Verbraucherdemokratie hieße im Grunde, die Regulierungsaufgaben als solche zu erkennen und als Verbraucher*innen auch anzunehmen. Das beleuchtet die politische und kollektive Dimension im Konsumbereich. Wir müssen das historisch vergleichen mit Arbeitskämpfen des 19. Jahrhunderts, wo auch erst eine Organisationsmacht gebildet werden musste, um bestimmten ökonomischen Playern etwas entgegenzusetzen. Heute nehmen wir Verbraucher auch ganz viel an der Wertschöpfung teil. Wir bewerten, geben Sternchen, schreiben Berichte und Feedbacks. Im Grunde leben Social-Media-Plattformen davon, dass Inhalte von Verbraucher*innen eingestellt werden. Das heißt, sie verdienen im Grunde genommen viel Geld mit Arbeit, die von Verbraucher*innen gemacht wird. Und ich denke, dass wir uns im 21. Jahrhundert noch mal an die Geschichte erinnern müssen, wie solche Kollektivierungen stattfinden können und dann entsprechend auch Interessenvertretungen organisieren müssen. Das alles wäre Teil der Verbraucherdemokratie, die auch Teil von Wirtschaftsdemokratie wäre.

Was stellen Sie sich da konkret vor?

Wenn man es mit dem Arbeitskampf vergleicht – da sind es zum Beispiel Betriebsräte, die als gewählte Repräsentant*innen für die kollektiven Interessen sprechen. Warum sollte das auf Plattformen nicht funktionieren? Warum sollten nicht auch die User so etwas wie Verbraucher- oder Userräte auf Plattformen wählen? Theoretisch ist das möglich, praktisch relativ einfach. Ich denke, da sind in Zukunft Wege möglich, um die man aber auch kämpfen muss.

Was kann der Verbraucherschutz in der digitalisierten Welt überhaupt noch leisten?

Im Bundesnetzwerk Verbraucherforschung wird seit vielen Jahren interdisziplinär dazu geforscht und diskutiert. Dauerthemen sind Digitalisierung und Nachhaltigkeit – die beiden großen Transformationsprozesse unserer Zeit. Digitaler Verbraucherschutz ist also auf dem Schirm. Auch bei den Verbraucherzentralen. Das Problem ist aber, dass sich die digitale Welt so schnell ändert und die Verbraucherschutzorganisationen so gering ausgestattet sind, dass es vielleicht so scheinen mag, als gäbe es keinen digitalen Verbraucherschutz. Es fließen Gelder von der Politik – nur viel zu wenig. Wenn man vergleicht, wie viel Geld in den industriellen Ausbau der Digitalisierungspotenziale, in die Förderung von Künstlicher Intelligenz geht und wie viel Geld in die Verbraucherforschung – auch inwiefern Verbraucherdemokratie vorangebracht werden könnte – sind die Mittel verschwindend gering. Deswegen braucht es da Initiativen, auch auf europäischer Ebene.

Interview: Fanny Schmolke