Ausgabe 08/2021
Eingefrorene Mitbestimmung
Seit 20 Jahren gibt es in der EU für Unternehmen die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft (SE). Seit gut zehn Jahren steigt vor allem in Deutschland die Zahl der Unternehmen kräftig, die eine solche SE gründen. Tatsächlich sind mehr als die Hälfte der operativ tätigen SE in der EU deutsche Unternehmen. Etliche von ihnen sind überwiegend im Inland aktiv – dabei sollte die SE eigentlich dazu dienen, grenzüberschreitend tätigen Unternehmen die Arbeit zu erleichtern.
Eine aktuelle Analyse des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung zeigt nun, dass die SE für das Arbeitnehmerrecht auf Mitbestimmung in Deutschland zu einem großen Problem geworden sind. Von den 424 im Juli 2021 aktiven deutschen SE haben 107 mehr als 2.000 Beschäftigte im Inland. Wären sie etwa Aktiengesellschaften nach deutschem Recht (AG), könnten Arbeitnehmer*innen im Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz zahlenmäßig paritätisch mitentscheiden – so wie in den aktuell 211 deutschen AG mit mehr als 2.000 Beschäftigten im Inland.
Jubiläum kein Grund zum Feiern
Doch tatsächlich verfügen nur 21 der 107 großen SE über Aufsichtsräte. Vier von fünf großen SE vermeiden also die paritätische Beteiligung im Aufsichtsrat. Davon sind aktuell mehr als 300.000 Arbeitnehmer*innen betroffen. Die Tendenz: seit Jahren steigend. Das ist für den wissenschaftlichen Direktor des I.M.U. trotz Jubiläum kein Grund zum Feiern.
Bei der SE gelten zwei Grundsätze: Mitbestimmung ist Verhandlungssache und der zum Zeitpunkt der SE-Gründung festgeschriebene Mitbestimmungs-Status bleibt für immer. Wachsende Unternehmen, die Arbeitnehmerbeteiligung verhindern wollen, firmieren deshalb häufig dann in eine SE um, wenn sie sich den einschlägigen "Schwellenwerten" bei den Beschäftigtenzahlen nähern. Dann greift der sogenannte Einfriereffekt.
Die künftige Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, dass sie sich dafür einsetzen wird, "dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird, sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt)". Das Problem ist also durchaus bekannt und erkannt.
Der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke begrüßte die Ankündigung der Ampelkoalition, dass sie die Lücken in der Unternehmensmitbestimmung schließen will. Das Aushebeln von Arbeitnehme-r*innenrechten würde so gestoppt. Ob damit auch schon von Tauwetter die Rede sein kann, bleibt offen. red