Ausgabe 02/2022
Diagnose per Smartphone
Hat sich dieser dunkle Fleck am Hals seit dem Sommerurlaub vergrößert? Ist es ein harmloser Leberfleck oder vielleicht doch Hautkrebs? Ein unkomplizierter Check wäre wünschenswert. Doch einen Termin beim Arzt zu bekommen ist nicht einfach. Und wenn es endlich geklappt hat, nervt das volle Wartezimmer und es dauert bestimmt eine Stunde, bis endlich der eigene Name aufgerufen wird. Mit dem Smartphone scheint es nun eine Alternative zu geben: Einfach eine App herunterladen, die verdächtige Hautstelle fotografieren – und kurz darauf kommt schon die Antwort.
In mehreren Studien haben Forscher*innen die Zuverlässigkeit solcher Apps getestet. Tatsächlich erkannten die Programme einen Großteil der bösartigen Hautveränderungen. Allerdings waren die Fotos von medizinischen Fachkräften ausgewählt und nicht von Laien fotografiert worden. So bleibt die Unsicherheit – und möglicherweise geht wertvolle Zeit für die Bekämpfung der Krankheit verloren.
Das Internet hat das Verhältnis von Mediziner*innen und Patient*innen bereits deutlich verändert. Viele Kranke recherchieren im weltweiten Netz, gründen Selbsthilfegruppen, tauschen Erfahrungen aus – und konfrontieren ihre Ärzt*innen mit Wissen und Vermutungen. Doch wenn sich Laien auf die Suche nach den Ursachen von Symptomen machen, versinken sie in einem Meer von Informationen. Grobe Fehleinschätzungen, Ängste oder fatale Selbstberuhigung gehören zu den Folgen. Aber auch in der analogen Welt erleben Menschen, die an einer seltenen Krankheit leiden, häufig eine Odyssee. Oft konsultieren sie zig Fachärzt*innen und erfahren manchmal erst nach Jahren, was ihnen wirklich fehlt.
Gute Trefferquote
Inzwischen gibt es immer mehr Werkzeuge, die auf Künstlicher Intelligenz basieren und bei der Diagnose helfen sollen. Dabei handelt es sich um riesige Datenbanken, die als lernende Systeme funktionieren. Symptome, Krankheitsverläufe, Ultraschall- oder Röntgenbilder anonymisierter Patient*innen sind dort abgelegt. Ständig kommt neues Material hinzu. Die Algorithmen sind so programmiert, dass sie in den Daten und Fotos der unterschiedlichen Krankheitsbilder Muster erkennen – und das viel schneller als Expert*innen es je könnten. Oft sind es Dutzende von Anhaltspunkten, die zusammengenommen auf eine bestimmte Krankheit hindeuten. Mit der Zeit werden die Computer immer treffsicherer, weil ständig weitere Fälle in die Datenbank einfließen.
Das Berliner Unternehmen Ada richtet sich mit unterschiedlichen Angeboten an Laien und Mediziner*innen. Acht Jahre lang wurde die Datenbank aufgebaut und gefüttert, bevor sie zugänglich wurde. Nun können Menschen aus aller Welt "Ada Health" nutzen. Die App kommuniziert in mehreren Sprachen und stellt den Kranken im Schnitt 20 bis 30 Fragen: Wann treten Rückenschmerzen, Harndrang oder trockener Husten auf, was verstärkt sie? Schwitzt die Person nachts, fühlt sie sich niedergeschlagen oder erschöpft, leidet sie an Appetitlosigkeit? Auch Haarausfall, Lichtempfindlichkeit oder veränderte Geruchswahrnehmungen können wichtige Hinweise geben. Am Schluss steht keine Diagnose, sondern das System zeigt Wahrscheinlich-keiten auf. Zum Beispiel: Neun von zehn Personen mit diesen Symptomen haben eine Sehnerventzündung; aber es gibt auch deutliche Übereinstimmungen mit Patient*innen, die an einer Netzhautablösung leiden oder das Susac-Syndrom haben.
Auf der gleichen Datengrundlage basieren Angebote für Mediziner*innen. Mehr als 12.000 Symptome und über 10.000 Krankheiten sind in den Ada-Computern hinterlegt. Vor allem bei Recherchen zu seltenen Leiden kann das System sehr hilfreich sein; schließlich sehen Ärzte manche Krankheiten maximal einmal in ihrem Leben. Mediziner*innen der Universität Mainz haben Ada getestet und dem System eine hohe diagnostische Treffsicherheit bescheinigt.
Hohe Profite
Seit Ende 2020 können Ärzt*innen auch medizinische Apps verschreiben. Hier geht es darum, Blutwerte der Patient*innen im Alltag aufzuzeichnen, Tinnitus im Zaum zu halten oder Vitaldaten live mit medizinischem Fachpersonal teilen zu können. So birgt die Digitalisierung durchaus große Chancen – wenn sie so ausgerichtet wird, dass sie den Patient*innen nutzt und der Entlastung von Ärzt*innen und Pflegepersonal dient. Im besten Fall ergänzen sich Mensch und Maschine bei dem, was sie jeweils am besten können. Computer sind in der Lage, Muster zu erkennen und in sekundenschnelle riesige Datenmengen aufzubereiten. Menschen verfügen dagegen über Einfühlungsvermögen und können Patient*innen mit ihren Wünschen und in ihrem sozialen Umfeld wahrnehmen. Hilft die Technik, ihnen mehr Zeit und Raum dafür zu schaffen, ist sie sinnvoll.
Doch in vielen Fällen steht nicht Menschenfreundlichkeit im Zentrum neuer Entwicklungen, sondern Profitstreben. Was es bedeutet, dass beim Startup Ada inzwischen Konzerne wie Bayer und Bertelsmann sowie mehrere Investmentfonds mit über 100 Millionen Euro eingestiegen sind, ist noch nicht absehbar. Zu vermuten ist allerdings, dass die Investoren lukrative Geschäftsfelder suchen und dafür strukturelle Abhängigkeiten entwickeln. Die Techniker Krankenkasse ist jedenfalls bei Ada wieder ausgestiegen, nachdem ein IT-Sicherheitsexperte Lücken beim Datenschutz entdeckt hatte.
Viel Datenklau
Bei vielen Internetangeboten geht es heute nämlich vor allem darum, personalisierte Informationen abzugreifen, zu sammeln und anschließend zu verkaufen. Das ist auch das Geschäftsmodell vieler Gesundheits- und Lifestyle-Apps, die die Nutzenden kostenlos herunterladen können. Sie zählen Kalorien oder Schritte, erinnern ans Trinken oder helfen, ein Blutzucker- oder Menstruations-Tagebuch zu führen. Mit Hilfe von Armbändern oder Ringen lassen sich hohe Pulsfrequenz oder Schweißausbrüche registrieren.
Ganz heiß auf aufbereitete Daten aus solchen Quellen sind Lebensversicherungen, die gerne vor Vertragsabschluss über den Gesundheitszustand ihrer Kundschaft informiert sein möchten. Wissen Versandhäuser, dass eine Frau schwanger ist, können sie ihr gezielt Werbung für Umstandsmode und Kinderkleidung schicken. Und wenn jemand im Alltag wenig belastbar ist, ist das für einen Personalvermittler eine wichtige Information.
Bei einer Untersuchung in Australien kam heraus, dass 88 Prozent der Apps, die über Android angeboten werden, Nutzerdaten absaugen – nicht selten im Widerspruch zu den Angaben, die auf der Website zu finden waren. Ob die Situation in Europa besser ist, ist unerforscht. Immerhin gelten in der EU seit 2018 mit der Datenschutz-Grundverordnung strenge Vorgaben.
Wie kann man seriöse Gesundheits-Apps erkennen?
Wer bietet die App an? Das Impressum sollte Auskunft geben. Fehlt es, ist die App unseriös.
Welche Ziele hat der Anbieter? Bei gemeinnützigen Organisationen, Krankenkassen, Kliniken oder Universitäten steht meist die Hilfe für Patient*innen im Zentrum. Bei anderen kostenlosen Angeboten geht es oft um finanzielle Interessen durch Datenverkauf oder Werbung für eigene Produkte.
Wie sieht es mit dem Datenschutz aus? In vielen Fällen benötigt die App für die Nutzung persönliche Daten. Verlangt sie Informationen, die für die Funktion unnötig sind: Finger weg!
Gibt es eine Kontaktmöglichkeit für Nutzende? Eine gute Gesundheits-App ermöglicht es Nutzenden nachzufragen.
Die Internet-Seite HealthOn testet App-Angebote systematisch und bewertet auch die damit verbundenen Risiken.
Editorial:
Natürlich gesund
Nach einem langen grauen Winter gibt's endlich wieder Sonne satt. Und da ein Aufenthalt im Freien nicht nur Spaß macht, sondern erwiesenermaßen auch gut für die Gesundheit ist, gibt es in Kanada nun Natur auf Rezept. Ärzt*innen dürfen ihren Patienten dort eine Jahreskarte für einen Nationalpark verschreiben. In Deutschland hat man bisher leider noch keine solche Schritte gemacht, um sich den Namen "Gesundheitssystem" wirklich zu verdienen, es macht eher krank (Seite G3-G5). Und apropos Schritte: Viele Krankenkassen versuchen ihre Mitglieder mit Bonusprogrammen zu bewegen. Unsere Kollegin hat sich (ver)locken lassen. Sie ist jetzt auf Schrittejagd und noch mehr draußen (Seite G2). Doch auch ohne Rezept und Bonus: Natur tut gut. Und? Heute schon draußen gewesen?. schmol