b_krankheit_umschlag-800x1095.jpg

Abwesenheit vom Ich

Comictipp – Im Marktsegment "Graphic Novel" ist Autobiografisches beliebt. Zudem bestimmt in dieser Sparte das Thema das Publikumsinteresse, nicht dessen Umsetzung. Insofern hätte David B.s "Die heilige Krankheit" über die epileptische Erkrankung seines Bruders sowohl als authentischer Bericht in der Ich-Form wie auch medizinischer Sachcomic Aussicht auf Erfolg gehabt. Dass er darüber hinaus exzellent und keinen Deut langweilig ist, verdankt er einem sozusagen mit allen Tinten gewaschenen Autor.

An David B.s Werdegang zum Künstler, eigentlich heißt er Pierre-François Beauchard – den Namen David nimmt er aus Protest gegen die antisemitischen Ansichten des Großvaters an – nehmen wir ebenso gespannt Anteil wie an den tragikomischen Versuchen seiner Eltern, durch alle nur erdenklichen Heilverfahren das Leid seines älteren Bruders zu lindern. Etwa mit der Neurochirurgie, bei der zur Sichtbarmachung von Hirnverletzungen oder Tumoren Gas in den Patientenkopf geleitet wird, was überaus schmerzhaft ist. Fragwürdig erscheint ebenfalls die verwandte Neuropsychiatrie, welche Epilepsie zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse in den 60-iger Jahren als das Böse verkennt. Irgendwann wird auf makrobiotische Ernährungsweisen sowie das anthroposophische Weltbild ausgewichen – verborgene Tücken bestimmen aber auch dabei das Familienschicksal.

Wie gut B. sein Handwerk versteht – und da hebt er sich von vielen Kolleg*innen ab – zeigt das Verständnis vom Erzählen durch Bild UND Text in untrennbarer Einheit. B.s Zeichnungen beinhalten Informationen, die den Text nicht nur ergänzen, sondern weiterführen. Wie in dem wunderbaren Panel, in dem die Kinderbande um David und dessen Bruder über ihre Größe hinauswachsen – die Häuser der Straße dabei überragend. Nachdem B. sich zuvor unscheinbar und im "richtigen" Maßstab geduckt aus der Tür des Hauses geschlichen hat, krönen er und seine Kumpels sich kurz darauf zu den Herrschern ihres angestammten Reviers und B. zu einem meisterhaften Erzähler. So geht Comic. Oliver Ristau

"Die heilige Krankheit", ISBN 978-3-03731-219-3, 368 S., s/w, 19 × 26 cm, 29 €, aus dem Französischen von Kai Wilksen