Ausgabe 02/2022
"Wir sind für die Menschen da"
Die Feuerwehrleute haben ihre Sporthalle leergeräumt, alle Fitnessgeräte im Nebenraum gelagert, grauen Filz auf dem Boden ausgelegt. Mit Blick auf Basketballkörbe hat dort jetzt Natalie Gabler von der Mannheimer Stadtverwaltung vorübergehend ihren Computer aufgebaut. Neben ihrem Tisch stapeln sich Kartons voller Spritzen, Desinfektionsmittel und Tupfer. "Der Arbeitsplatz ist sehr provisorisch", sagt die Bürokauffrau. "Wir haben nicht mal Festnetz. Doch es ist echt top hier. Alles läuft Hand in Hand." Hier in der Leitstelle für die Einsatzplanung der mobilen Impfteams der Stadt.
Die Einsatzleiterin
In der umfunktionierten Turnhalle klemmt sich Gabler hinters Telefon, tippt Mails, plant die Einsätze und wählt die Standorte für die Impfteams aus. Immer wieder muss sie ihren Satz, den sie gerade sagen will, unterbrechen, weil aus den Lautsprechern an der Wand eine Durchsage tönt: "Achtung, Einsatz für Hauptfeuerwache!" Gabler lacht. Ein Blick auf die Armbanduhr: 10:30 Uhr treffen sich die Impfteams vor dem Haupteingang. Gabler steckt ihr Handy in ihre dunkelblaue Daunenjacke und läuft schnurstracks über den Hof, ein paar Schritte entfernt rücken Feuerwehrautos aus.
Eine Frau mit Pudelmütze und grünem Mantel ruft: "Wo werden wir heute getestet?" – "In der kleinen Fahrzeughalle", antwortet Gabler. Neben knallroten Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr stehen hier heute Nierenschalen mit Testkits auf einer Bierbank bereit. Die Impfteams schieben sich routiniert die Stäbchen in die Nase. Gabler hakt die Personalliste ab. Eine Kollegin ist zur alten Feuerwache statt zur Hauptwache gefahren. "Sonst sind alle startklar", verkündet Gabler.
In jedem Team ist neben einem Arzt beziehungsweise einer Ärztin und einer medizinischen Fachkraft eine sogenannte Adminkraft dabei, die sich bei den Impfungen um den ganzen Papierkram kümmert. Stets mit von der Partie sind auch ein Mitglied der freiwilligen Feuerwehr und ein Fahrdienst von Hilfsorganisationen wie Rotes Kreuz, Arbeiter-Samariter-Bund, Johanniter, Malteser oder DLRG. Mittlerweile sind alle an Bord, und ein Kleintransporter nach dem anderen startet den Motor, rollt vom Hof der Feuerwache und bringt die Teams zu ihren Einsatzorten: Sie impfen an diesem Tag im Kongresszentrum, in Kulturhäusern, im Möbelhaus, eine Crew steigt auf dem Parkplatz vor einer Schule in den Impfbus um.
Die Adminkraft
Als Weg aus der Pandemie hat Mannheim schon früh die Devise ausgegeben: Impfen, impfen, impfen – und zwar so niedrigschwellig wie möglich. Außerdem hat die Stadt schnell eine eigene Corona-Hotline eingerichtet, um die Fragen der Bürgerinnen und Bürger zu beantworten. Dabei sind Kolleginnen und Kollegen aus der Stadtverwaltung nonstop im Einsatz. Sebastian Müller zum Beispiel. Der junge Mann begleitet das Team zur Grundschule, steigt in den umfunktionierten Linienbus und stellt sich direkt ans Laptop: Wo sonst Fahrgäste ihr Gepäck abstellen, ist jetzt sein Arbeitsplatz. Müller hat eine Ausbildung als Geomatiker bei der Stadt gemacht und ist normalerweise dafür zuständig, die Stadtgrundkarte zu aktualisieren. Doch als es mit den Impfungen losging und die Stadt Freiwillige aus der Verwaltung suchte, die vorübergehend ihren Arbeitsplatz verlassen, hat er sich sofort gemeldet: "Wenn ich helfen kann, helfe ich", sagt der 26-Jährige. Als Mitarbeiter der Kommune fühle er sich dem Gemeinwohl verpflichtet. "Das ist für mich ein Bürgerdienst."
Zuerst fuhr Müller als Adminkraft zum Impfen mit in die Pflegeeinrichtungen, half danach im Impfzentrum und ist jetzt mit den mobilen Teams auf Tour. Vor jedem Pieks nimmt er die Personalien auf, vermerkt in der Akte, welcher Impfstoff verwendet wird, dokumentiert die Chargennummer, welcher Arm geimpft wird – und stellt danach ein Impfzertifikat aus. Eigentlich sei er eher introvertiert, sagt Müller. "Früher hätte ich mir nie vorstellen können, jeden Tag so viele neue Leute zu begrüßen." Doch inzwischen kommt er damit locker zurecht.
Nebenbei ist er für die Technik der mobilen Impfteams zuständig. In der Ausbildung habe er etwas IT gelernt, sagt er. Wenn jemand Probleme mit dem Drucker hat oder sein Passwort nicht weiß, hilft Müller weiter. Oft war der junge Mann in den letzten zwei Jahren an Wochenenden und Feiertagen im Einsatz, hat bis spät in die Nacht gearbeitet und lange keinen Urlaub gemacht. Der 26-Jährige zuckt mit den Schultern: "Ich würde es immer wieder machen."
Sein Kollege Peter Götz steht vor dem Impfbus auf dem Schulhof und nickt. "Dieser Job ist definitiv wichtig", sagt er. Vor der Pandemie war er als Teamleiter für Zwangsvollstreckungen im Außendienst bei der Stadt tätig, jetzt ist er als Adminkraft mit den Impfteams in Mannheim unterwegs. Zu Spitzenzeiten bildeten sich meterlange Schlangen. Anfangs waren noch Bedingungen wie Alter oder Vorerkrankungen an eine Impfung geknüpft. "Viele mussten wir wegschicken", sagt Götz, "das war schlimm." Sein Rekord seien 197 Impfungen in einer Schicht gewesen, von 12 bis 18 Uhr. "Abends im Auto hatte ich Krämpfe in den Händen vom vielen Tippen."
Damals habe er sich auch eine Arabisch-App runtergeladen, der Mitarbeiter der Stadt kramt aus seiner Jeanstasche sein Smartphone hervor. "Welchen Impfstoff möchten Sie?", fragt er ins Handy – aus dem Lautsprecher tönt der Satz auf Arabisch. "Das hat total gut funktioniert", sagt Götz und strahlt über das ganze Gesicht. Einmal hätten zwei Impfgegner eine Ärztin bedrängt, berichtet der kräftige Mann, da sei er dazwischen gegangen. Inzwischen ist immer ein Security-Mitarbeiter vor Ort dabei. Zwar sei die Zahl der Impfungen deutlich zurückgegangen, "aber es gibt täglich immer noch Erstimpfungen". Wenn es um die Impfstrategie in Mannheim geht, streckt er beide Daumen hoch. Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD) habe früh in eigener Regie zusätzlich zu den festen Impfzentren mobile Teams in die Quartiere geschickt. "Das war top!"
Die Crews
Aktuell impfen drei Teams im Kongresszentrum in der Innenstadt, zwei steuern Stützpunkte in unterschiedlichen Quartieren an, eins ist mit dem Impfbus unterwegs und eine Crew bleibt flexibel für kurzfristige Einsätze verfügbar. Die Anwesenheit vor Ort zahlt sich aus. Bei der Impfquote liege die Industriestadt stets etwas über dem landesweiten Durchschnitt, sagt eine Sprecherin der Stadt Mannheim.
"Hinter der Einsatzplanung steckt sehr viel Organisation", sagt Natalie Gabler. Das Personal muss eingeteilt, der Impfstoff gekühlt, das Equipment bereitgestellt und die Kisten für die Teams gepackt werden. Die Bürokauffrau besichtigt vorher jeden Standort, prüft, ob der Impfbus dort problemlos parken könne, ob genug Abstand möglich ist, ob es Stromanschluss gibt – und holt Genehmigungen ein. Oft klingelt auch am Wochenende ihr Handy: Weil jemand die Tür für die Steckdose nicht wie verabredet aufgeschlossen hat, sich jemand krankmeldet oder, oder, oder. Hinzu kommt, dass ständig neue Vorgaben zu berücksichtigen sind. Empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) eine vierte Impfung für Über-70-Jährige, setzen die Mannheimer Impfteams die Regelung noch am gleichen Tag um.
Vor der Pandemie war Gabler bei der Stadtverwaltung unter anderem für Bau- und Immobilienmanagement zuständig. Als die Stadt den Aufbau eines kommunalen Impfzentrums plante, meldete sie sich sofort. "Das war Wahnsinn", sagt die 43-Jährige. Die ganze Stadtverwaltung habe mitgemacht. Die Feuerwehr habe in Eigenregie die Pläne entworfen und auf dem Gelände der Maimarkthalle in kürzester Zeit ein Impfzentrum aus dem Boden gestampft. Ab Januar 2021 saß Gabler dort als administrative Kraft tagtäglich in einer kleinen Impfkabine und gab die Daten der Patientinnen und Patienten in den Computer ein. "Wir waren abgeschottet in einer eigenen Welt."
Trotzdem habe es keine Langeweile gegeben. Jeden Tag begegnete sie Menschen und hörte sie Geschichten, die sie sehr bewegten. Einmal kam eine alte Dame ganz alleine, ihr Mann war kurz zuvor an Corona gestorben, tapfer ließ sie sich impfen. "Das macht was mit einem", sagt die Bürokauffrau, "das ist schwer in Worte zu fassen." Viele Menschen seien sehr dankbar gewesen, hätten viel Wärme und Herzlichkeit vermittelt. "Das hat mich extrem erfüllt."
Nach ein paar Monaten übernahm Gabler die stellvertretende Leitung des Impfzentrums. Da der Verlauf der Pandemie ungewiss war, wurde ihr Einsatz jeweils nur für zwei, drei Monate festgelegt. "Ich wusste im Juni nicht, wo ich im August arbeite", sagt sie. "Wer sollte meinen Urlaubsantrag unterschreiben?" Also verzichtete Gabler auf längere Reisen. Geimpft wurde an sieben Tagen pro Woche, ihr Privatleben kam zu kurz, Verabredungen gestalteten sich schwierig, oft kam die städtische Angestellte spät nach Hause, arbeitete am Wochenende oder hatte Rufbereitschaft. "Die Arbeit im Impfzentrum stand über allem", betont sie. Alle hätten an einem Strang gezogen, das habe enorm zusammengeschweißt. Von der Reinigungskraft bis zum Notarzt beziehungsweise zur Notärztin seien sich alle auf Augenhöhe begegnet. "Das war eine unglaublich tolle Erfahrung."
Die von der Corona-Hotline
Nur ein paar Haltestellen von der Feuerwache entfernt hat Laura Bettag ihr Büro bei der Corona-Hotline im Bürgeramt mitten in Mannheim. Zuvor half die Mitarbeiterin der Stadt ebenfalls drei Monate lang im kommunalen Impfzentrum mit. Ursprünglich war sie beim Nationaltheater Mannheim als Referentin der Eigenbetriebsleitung tätig. Als die städtische Bühne den Betrieb wegen der Pandemie vorübergehend einstellte, wurden viele Beschäftigte in die Maimarkthalle abgeordnet. Sie habe die Arbeit von Herzen gerne getan, sagt die Kulturmanagerin. "Dort herrschte eine ganz besondere Atmosphäre: Jeder hatte seine Aufgabe und niemand war verzichtbar, die meisten waren per du. Es gab kein Gehabe, sondern es ging um die große Sache."
Als die Nachfrage nach dem Vakzin zurückging, beschloss Baden-Württemberg – wie andere Bundesländer auch – den Betrieb aller Impfzentren zum 30. September 2021 einzustellen. Bettag kehrte vorrübergehend ans Theater zurück, ihre Kollegin Natalie Gabler wechselte zur Corona-Hotline, half bei der Kontaktnachverfolgung. Doch die Stadt kam schnell zu dem Schluss, beim Impfen nicht nur auf die Hausärzt*innen zu setzen, sondern weiterhin eigene Teams rauszuschicken. Nach zwei Wochen kam der Anruf, ob die Bürokauffrau die Koordination übernehmen möchte? "Klar, bin ich dabei!" Einarbeiten konnte Gabler niemand, die Aufgabe war ja ganz neu. Wen anrufen? Wie vorgehen? "Das war learning-by-doing."
Auch Laura Bettag blieb nur kurz bei der städtischen Bühne, weil sie im Intranet eine Stellenausschreibung entdeckte: Teamleitung für Corona-Hotline gesucht! Jetzt spaziert sie im Gebäude der städtischen Bürgerdienste gutgelaunt durch die leeren Flure, ihre schwarzen Stiefeletten klackern über den Linoleumboden, rechts und links sitzen hinter den Glastüren nur ganz vereinzelt Kolleginnen und Kollegen. Seit Omikron gibt es die Ansage, dass wirklich nahe-zu alle von zu Hause arbeiten sollen. "Zur Sicherheit der Beschäftigten", sagt Bettag.
Sieben Tage die Woche
Sie öffnet die Tür zu ihrem Büro. "Zuletzt telefonierte noch eine einzige Mitarbeiterin hinten am Fenster neben der Garderobe", sagt Bettag. Doch jetzt sind sämtliche Arbeitsplätze im Callcenter der Hotline unbesetzt. Auch sie selbst ist nur noch tageweise in ihrem Büro. Die Stadt habe in der Pandemie stets viel Wert auf Abstand und Homeoffice gelegt, betont Bettag. Eine Dienstvereinbarung regelt, dass dafür keine privaten Rechner, Laptops oder Handys verwendet werden. Die technische Ausstattung stelle komplett die Stadt, sagt Bettag.
Zu ihrem Team gehören über 30 Kolleginnen und Kollegen. Sie waren vorher im Rechnungsprüfungsamt, in der Abfallwirtschaft, dem Personalamt oder Immobilienmanagement beschäftigt und wurden für die Hotline abgeordnet. "Das ist ganz bunt gemischt", sagt Bettag. Sie alle beantworten die Fragen der Bürgerinnen und Bürger aus Mannheim rund um Corona, sieben Tage pro Woche. "Meist geht es um ganz praktische Hilfe", sagt die Teamleiterin. Zum Beispiel, wo sie eine Quarantänebescheinigung für ihren Arbeitgeber erhalten. Oder wie sie nach einem positiven Schnelltest an einen kostenlosen PCR-Test kommen. Der Bedarf ist groß.
Die Teamleiterin klickt auf eine Exceltabelle: In den vergangenen Wochen gingen täglich oft über 2.000 Anrufe ein, die meisten am Montagvormittag. Einige der Bürgerinnen und Bürger sind wütend oder verzweifelt, einige weinen, andere schimpfen. Die Kolleginnen und Kollegen der Hotline würden geschult, mit solchen Situationen gut umzugehen, sagt Bettag. Dabei dürften sie weder in Mitleid verfallen noch sich zu psychologischen Beratungen hinreißen lassen. "Wichtig ist, dass sie professionell helfen." Dabei können sie auf ein Netzwerk zurückgreifen und an andere Hilfsangebote verweisen. Viel Wert legt die Teamleiterin darauf, jedem Bürger und jeder Bürgerin mit einer zugewandten Haltung zu begegnen. "Wir sind der öffentliche Dienst", sagt Bettag. "Wir sind für die Menschen da."
Wie es langfristig mit der Pandemie weitergehen wird, weiß niemand. Alle können an ihre alten Arbeitsplätze zurückkehren. Viele werden das tun, andere haben ganz neue Fähigkeiten an sich entdeckt. Sebastian Müller hat neulich mit seinem Teamleiter bei der Stadtplanung telefoniert: "Viele meiner Aufgaben bleiben liegen", sagt der 26-Jährige. Darum kümmere er sich später. Sein Kollege Peter Götz sagt, er habe in den letzten zwei Jahren so viele Urlaubstage angehäuft, dass er vorzeitig in Ruhestand gehen könnte. "Aber solange ich gebraucht werde, bleibe ich." Seine Hunde kommen manchmal ein bisschen zu kurz, aber jetzt gehe es darum, die Pandemie zu bewältigen. "Hier kannst du einen Unterschied machen", sagt die Adminkraft.
Und was macht Natalie Gabler, wenn die Impfteams irgendwann nicht mehr gebraucht werden? Sie zuckt mit den Schultern und lächelt unter ihrer FFP₂-Maske, es ist an ihrem Blick zu erkennen. Einen normalen Schreibtischjob könne sie sich jedenfalls nicht mehr vorstellen. Wenn sie jetzt Feierabend macht, darf sie ab und zu die Feuerwehrstange runterrutschen. "Wenn ich nach zehn Metern unten ankomme, habe ich so viele Glücksgefühle, dass der ganze Stress vergessen ist."