Ausgabe 05/2022
Kein Reel, sondern real
Beim Social-Media-Riesen TikTok in Berlin ist der Weg frei für Betriebsratswahlen. Mehr als 100 Mitarbeitende haben am 11. Juli 2022 mit Hilfe von ver.di erfolgreich die erste Versammlung zur Wahl eines Betriebsrats am Standort Berlin durchgeführt, die in der ver.di-Bundeszentrale in Berlin stattfand. Der nun gewählte Wahlvorstand werde die Wahlen in den kommenden Wochen einläuten, kündigte der zuständige ver.di-Gewerkschaftssekretär Hikmat El-Hammouri an. Die Social-Media-Plattform für Videos steht wegen schlechter Bezahlung seiner Beschäftigten und stark belastenden Arbeitsbedingungen weltweit in der Kritik. Das Unternehmen gehört zum chinesischen Mutterkonzern ByteDance und hat mehr als 10.000 Mitarbeiter*innen weltweit, in Berlin sind es 200.
Gewerkschaft zur Hilfe geholt
Mitten in der Pandemie, im März 2021, hatten die Beschäftigten in Berlin einen ersten Versuch unternommen, einen Betriebsrat zu gründen und einen Wahlvorstand zu wählen. Das aber scheiterte am rechtlichen Widerstand des Arbeitgebers. Weil das Betriebsverfassungsgesetz vorsieht, dass die Wahlvorstandsgründung nur in Präsenz möglich ist, wurde das erste digital abgehaltene Treffen nicht als Versammlung zur Wahl des Wahlvorstandes anerkannt. TikTok zog vor Gericht, und auch in zweiter Instanz hat das Landesarbeitsgericht die digitale Versammlung für ungültig erklärt. Die Initiativgruppe bat daraufhin ver.di um Unterstützung, um einen zweiten, rechtssicheren Anlauf zur Betriebsratsgründung durchzuführen.
An diesem besonderen Fall zeige sich erneut die Relevanz von Gewerkschaften, so El-Hammouri: "Bei TikTok handelt es sich um einen riesigen Social-Media-Konzern mit einer stetig wachsenden Zahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Es ist uns durch die Einladungsinitiative gelungen, den Start für die Wahl eines Betriebsrates einzuläuten. Der erste gescheiterte Versuch, einen Betriebsrat zu gründen, bei dem ver.di nicht involviert war, zeigt, dass es wichtig ist, von Anfang an mit den Profis der Gewerkschaften zu arbeiten."
Toxische Arbeitsatmosphäre
Unter den Beschäftigten am Standort Berlin herrscht derzeit große Unzufriedenheit. Sean Krusch, einer der drei neu gewählten Wahlvorstände, sieht eine klare Notwendigkeit für einen Betriebsrat: "Die Mitarbeitenden brauchen ein Sprachrohr. Der Betriebsrat kann auf dem direkten Weg mit dem oberen Management in einen Dialog treten und dafür Sorge tragen, dass die Belange der Mitarbeitenden gehört werden und Betriebsvereinbarungen eingehalten werden. Wir wünschen uns bessere Arbeitsbedingungen, höhere Gehälter und eine bessere Kommunikation mit dem oberen Management."
Alexander Acht kommt aus dem Bereich Operations und ist unter anderem für die Identifizierung und Umsetzung möglicher neuer Inhalte für die Plattform verantwortlich. Er wurde ebenfalls in den Wahlvorstand gewählt und zeigt sich zufrieden angesichts der großen Beteiligung und Unterstützung vieler Kolleginnen und Kollegen. Seit zwei Jahren arbeitet er bei TikTok in Berlin und hat sich auch aus Solidarität mit seinen Kolleginnen engagiert: "Wir haben so gut wie keine weiblichen Führungskräfte, wir beobachten sexistischen Umgang mit Kolleginnen, und der Leistungsdruck ist enorm. Hinzu kommt die mangelnde Freiheit der Mitarbeitenden und die zum Teil wirklich toxische Arbeitsatmosphäre. Ich beobachte aber auch, dass ständige Kontrollen einzelner Arbeitsschritte und permanentes Micromanaging zu einem echten Problem werden. Es ist höchste Zeit, dass sich hier etwas verändert."
Misshandlungen und Tierquälerei
Insbesondere Mitarbeitende des Department Trust & Safety, zu dem die Inhaltsmoderator*innen gehören, kritisieren die schlechte Bezahlung und hohe Arbeitsbelastung. Bei einem Jahresgehalt von knapp 30.000 Euro, also etwa 2.500 Euro monatlich brutto, tragen sie die Hauptlast. Sie müssen dafür sorgen, dass die Nutzer*innen keine traumatischen Bilder sehen. Dazu gehören Videos, die Misshandlungen von Kindern, Tierquälerei, Selbstmordattentäter und Enthauptungen zeigen. Alles Inhalte, die die KI häufig nicht selbst überprüfen und bewerten kann. Deshalb werden Menschen dafür eingesetzt.
"Die Bedingungen insbesondere für Inhaltsmoderator*innen haben sich deutlich verschlechtert und die Arbeitsanforderungen sind gestiegen. Wir müssen mehr Inhalte in kürzerer Zeit unter mehr Vorgaben sichten und bewerten. Das ist insbesondere belastend vor dem Hintergrund, dass zweimal im Jahr eine Bewertung der Mitarbeiter stattfindet", erläutert das neue Wahlvorstandsmitglied Krusch.
In einer 8-Stunden-Schicht müssen die Moderator*innen etwa 1.000 Videos anschauen und bearbeiten bzw. bewerten. Mitarbeitende berichten, dass dies nur möglich sei, indem man sie in vierfacher Geschwindigkeit abspiele. Das erschwere wiederum die Bewertung und richtige Einordnung. Fehler würden sich einschleichen.
Wie geht's jetzt weiter? ver.di wird auch weiterhin an der Seite der Mitarbeitenden und Aktiven stehen und die Wahlen zum Betriebsrat begleiten. Für alle Beteiligten bleibt es spannend, nicht nur weil ein Betriebsrat bei TikTok wichtige Innovationen für die Mitarbeitenden anschieben kann, sondern auch weil TikTok als Leuchtturm für die Wahl eines Betriebsrats in vergleichbaren Social-Media-Konzernen wie Facebook und Co. fungieren kann.